Viele Ärztinnen und Ärzte bleiben auch im Rentenalter weiter im Dienst – meist mit reduziertem Pensum und flexiblen Arbeitszeiten, um Versorgungsengpässe zu mildern. Auch in Deutschland zeichnet sich ab, dass pensionierte Medizinerinnen und Mediziner vermehrt weiterhin praktizieren. Angesichts des Fachkräftemangels im Gesundheitswesen und immer älter werdender Belegschaften gewinnt die Weiterbeschäftigung von Ärzten im Ruhestand an Bedeutung. Im Folgenden wird beleuchtet, wie verbreitet dieses Modell bereits ist, welche Daten und Prognosen zur Altersstruktur der Ärzteschaft vorliegen, welche Motive die „Ärzte 60+“ antreiben und wie Kommunen – etwa durch Medizinische Versorgungszentren (MVZ) – pensionierte Ärzte erfolgreich einbinden.
Ärztliche Tätigkeit im Ruhestand – keine Seltenheit
Eine Umfrage des Deutschen Ärzteblatts zeigt deutlich: Arbeiten im Ruhestand ist für viele Ärzte keine bloße Ausnahme mehr, sondern oft gewollt – allerdings unter bestimmten Voraussetzungen. Von rund 5.000 kürzlich befragten Ärztinnen und Ärzten gaben drei Viertel an, sich eine Tätigkeit bis 70 Jahre oder sogar länger vorstellen zu können; etwa 20 % könnten sich sogar vorstellen, bis mindestens 75 weiterzuarbeiten. Diese hohe Bereitschaft ist jedoch an Bedingungen geknüpft: 90 % der Befragten wünschen sich freie Zeiteinteilung, 81 % fordern eine Entlastung von Bürokratie und 76 % nennen finanzielle Anreize als wichtig. Die Botschaft lautet also: Viele Ärztinnen und Ärzte sind grundsätzlich motiviert, über das traditionelle Rentenalter hinaus zu arbeiten – allerdings nur, wenn Arbeitsbedingungen und Rahmenbedingungen seniorenfreundlich gestaltet werden.
Dieser Trend spiegelt sich bereits in der aktuellen Altersverteilung unter praktizierenden Medizinern wider. Über 100.000 berufstätige Ärztinnen und Ärzte in Deutschland haben bereits das 60. Lebensjahr überschritten, was etwa 23 % der Ärzteschaft entspricht. Mit anderen Worten: Fast ein Viertel aller aktiven Ärzte ist über 60 Jahre alt – Arbeiten im Ruhestand ist also längst keine Rarität mehr. Eine Ruhestandswelle ist absehbar und mancherorts bereits Realität. Viele dieser Senior-Ärzte stehen weiterhin am Patienten, sei es in reduzierter Stundenzahl, in Vertretungen oder in anderen Funktionen. Die Umfrage des Ärzteblatts bestätigt: Ein Großteil möchte die heilberufliche Tätigkeit aus Idealismus und Berufsethos nicht komplett aufgeben, sondern unter angepassten Bedingungen weiter ausüben. So betont eine Auswertung: „Ruhestand bedeutet für viele Ärzte nicht Stillstand, sondern die Chance, unter neuen Bedingungen das zu tun, was sie erfüllt.“.
Altersstruktur der Ärzteschaft – Daten und Prognosen bis 2040
Ein Blick auf die Statistik verdeutlicht, warum das Thema so brisant ist. Die Ärzteschaft altert seit Jahren kontinuierlich. Nach aktuellen Zahlen (Stand Ende 2023) sind gut 31 % der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte 55 Jahre und älter. Vor zehn Jahren lag dieser Anteil noch bei 26 %, was den demografischen Wandel in diesem Berufsfeld unterstreicht. Besonders relevant ist die Gruppe der Senior-Ärzte: Etwa 23 % aller aktiven Mediziner haben das 60. Lebensjahr überschritten. Innerhalb dieser Gruppe befinden sich rund 9% der Ärzteschaft bereits jenseits der 65 Jahre. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der hausärztlichen Versorgung wider: Von allen niedergelassenen Hausärzten (Praxisinhabern) in Deutschland ist ein erheblicher Teil im Rentenalter oder kurz davor. So sind beispielsweise 41 % der Praxisinhaber bereits über 60. Damit steht fest, dass ein großer Teil der Versorger in naher Zukunft altersbedingt ausscheiden wird.
Die Konsequenzen dieser Alterungsstruktur sind erheblich. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung wird bundesweit jeder zweite Hausarzt in den kommenden Jahren altersbedingt aus dem Berufsleben ausscheiden. Diese prognostizierte Welle an Praxisabgaben trifft vielerorts auf Nachwuchsprobleme. Bereits heute finden sich in vielen Regionen nicht genügend Nachfolger, um freiwerdende Praxen zu übernehmen. Der Ärztemangel dürfte sich somit weiter verschärfen – quantitativ wie strukturell, da ländliche Räume und bestimmte Fachgebiete besonders betroffen sind. Zwar ist die Gesamtzahl der Ärzte in Deutschland in den letzten Jahren noch gestiegen (binnen zehn Jahren um etwa 23 % auf rund 502.000 in 2023), doch reicht dieses Wachstum nicht aus, um den Mehrbedarf zu decken. Gründe sind unter anderem der Trend zu Teilzeit und der Weggang vieler junger Ärzte ins Ausland oder in andere Tätigkeitsfelder. Für eine frei werdende Vollzeitstelle müssen heute oft zwei Teilzeitkräfte gefunden werden, um die gleiche Versorgungskapazität aufrechtzuerhalten – die klassische „1:1-Nachbesetzung“ ist vielerorts nicht mehr realistisch.
Der Blick in die Zukunft mahnt zum Handeln: Nach Schätzungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI) wird bis zum Jahr 2040 ein Fehlen von 30.000 bis 50.000 Ärztinnen und Ärzten drohen. Das heißt, selbst wenn alle aktuell in Ausbildung befindlichen Mediziner ins System einmünden, klafft eine erhebliche Lücke – verstärkt durch die geburtenstarken Jahrgänge, die bis dahin in Rente gehen. Dieser Nachwuchsmangel ist in einigen Bereichen bereits spürbar: Derzeit sind rund 5.200 Hausarztsitze unbesetzt. Die Alterung der Gesellschaft sorgt zugleich für steigenden Versorgungsbedarf. Kurz: Ohne Gegenmaßnahmen steht die ambulante medizinische Versorgung vor einer ernsten Herausforderung. Die Weiterbeschäftigung erfahrener Senior-Ärzte kann hier ein wichtiges Entlastungsventil sein – freilich nur als ein Baustein unter mehreren, um die Versorgung aufrechtzuerhalten.
Warum arbeiten Ärzte nach der Rente weiter?
Angesichts der beschriebenen Lage stellt sich die Frage, was pensionierte Ärztinnen und Ärzte dazu bewegt, weiterhin ihrer Berufung nachzugehen, anstatt den wohlverdienten Ruhestand in Gänze zu genießen. Die Motive sind vielfältig und liegen sowohl auf persönlicher als auch auf struktureller Ebene:
- Berufsethos und Erfüllung: Viele Mediziner empfinden ihren Beruf nicht nur als Broterwerb, sondern als Lebensaufgabe. Sie haben Jahrzehnte lang Menschen geholfen und möchten dieses Gefühl der Sinnstiftung nicht abrupt verlieren. In Umfragen geben nahezu 77 % der weiterarbeitswilligen Ärzte an, durch die Arbeit im Alter ihren Selbstwert erhalten zu wollen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, betont, dass engagierten Ärztinnen und Ärzten der spätere Wiedereinstieg erleichtert werden müsse – es bringe ihnen persönliche Erfüllung und sei zugleich ein „echter Gewinn für die Versorgung“. Mit anderen Worten: Ruhestand heißt für viele nicht Stillstand, solange sie sich körperlich und geistig in der Lage fühlen.
- Flexible Arbeitsgestaltung: Ein häufig genannter Grund ist der Wunsch nach weniger belastenden Arbeitsmodellen im Alter. Viele Ärztinnen und Ärzte sind bereit, weiterzuarbeiten, allerdings in geringerem Umfang. Laut Deutschem Ärzteblatt liegt die gewünschte Arbeitszeit im Ruhestand im Durchschnitt bei etwa 15–16 Stunden pro Woche – also ungefähr zwei Arbeitstage. Diese Reduktion erlaubt mehr Freizeit und Erholung, während man dennoch medizinisch aktiv bleibt. Flexibilität bedeutet auch, keine Nacht- oder Wochenenddienste mehr leisten zu müssen und Phasen der Arbeit und Freizeit selbstbestimmter einzuteilen. Freie Zeiteinteilung rangiert folgerichtig ganz oben bei den Forderungen der Älteren.
- Bürokratie und Arbeitsbedingungen: Häufig beklagen erfahrene Ärzte die zunehmende Verwaltungsarbeit und Bürokratie im Gesundheitswesen. Im Ruhestand noch weiterzuarbeiten, kommt für viele nur dann infrage, wenn sie von diesem administrativen Ballast weitgehend befreit sind. In der erwähnten Umfrage sprachen sich über 80 % der potenziell weiterarbeitenden Ärzte für eine spürbare Bürokratieentlastung aus. „Wer im Ruhestand weiterarbeitet, will sich nicht mit betriebswirtschaftlichen Fragen, Personalführung oder Abrechnungsformularen herumschlagen“, brachte es Ärztepräsident Reinhardt auf den Punkt. Die Möglichkeit, sich auf die ärztliche Kernaufgabe – die Patientenversorgung – zu konzentrieren, erhöht also die Attraktivität der Weiterarbeit erheblich. Modelle, bei denen z.B. ein Medizinisches Versorgungszentrum oder ein anderer Träger die organisatorische Verantwortung übernimmt, treffen hier auf großes Interesse.
- Struktureller Bedarf und Verantwortung: Viele Ärztinnen und Ärzte sehen sich auch aus Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Patienten und der Gesellschaft zum Weitermachen motiviert. Besonders auf dem Land oder in strukturschwachen Regionen wissen die „alten Hasen“, dass ohne sie eine Versorgungslücke droht. Sie fühlen sich ihren langjährigen Patienten verbunden und möchten die Praxis nicht im Stich lassen, solange kein Nachfolger da ist. Dieses Commitment kann sogar dazu führen, dass Rentenpläne aufgeschoben werden, um den Übergang zu erleichtern. Der demografische Wandel erzeugt hier also einen Bedarf, den pensionierte Ärzte mit ihrem Einsatz decken helfen. Wie Reinhardt feststellt, ist dieses freiwillige Engagement im Ruhestand auch ein Teil einer nachhaltigen Fachkräftestrategie – es verschafft Zeit, bis neue Kräfte aufgebaut sind. Wichtig ist allerdings, dass sich das Engagement für die Ruheständler „lohnt“ – sei es ideell oder finanziell. Viele Ärzte im Rentenalter würden weiterarbeiten, wenn z.B. Hinzuverdienstgrenzen angehoben, steuerliche Erleichterungen gewährt oder Sozialabgaben auf Zusatzverdienste erlassen würden. Hier sind Gesetzgeber und Arbeitgeber gefragt, entsprechende Anreize zu setzen, um die Bereitschaft zum Weitermachen nicht durch finanzielle Nachteile zu bremsen.
Zusammengefasst ergibt sich ein Bild von hochqualifizierten Senior-Ärzten, die unter den richtigen Bedingungen bereitstehen, um weiterhin zum Wohl der Patienten tätig zu sein. Es geht ihnen weniger darum, ihre Karriere zu verlängern, als vielmehr darum, flexibel, entlastet und sinnstiftend tätig bleiben zu können – gerade weil ihre Kompetenz und Erfahrung im System gebraucht werden. Dieses Potenzial zu heben, liegt auch im Interesse der öffentlichen Gesundheitsversorgung.
Kommunale MVZ: Versorgung sichern mit erfahrenen Ärzten
In vielen Kommunen, besonders im ländlichen Raum, wird die Einbindung von Ärztinnen und Ärzten im Ruhestand bereits ganz praktisch gelebt – oft in Form kommunaler Medizinischer Versorgungszentren (MVZ). Kommunale MVZ sind Gesundheitszentren, die von Städten, Gemeinden oder Landkreisen betrieben werden, um die ambulante Versorgung sicherzustellen, wenn niedergelassene Ärzte fehlen. Für Senior-Ärzte bieten sie eine interessante Plattform: Sie können dort angestellt und entlastet weiterarbeiten, ohne die volle Verantwortung einer eigenen Praxis. Zwei Beispiele – Werlte in Niedersachsen und Klettgau in Baden-Württemberg – verdeutlichen, wie Ruhestandsärzte zur Stütze regionaler Versorgung werden.
In Werlte, einem kleinen Städtchen im Emsland, praktizieren gleich vier Hausärzte trotz Rentenalters gemeinsam weiter. Eine lokale Zeitung betitelte dies als „Mehr als 100 Jahre Arzt-Erfahrung“ unter einem Dach. Tatsächlich sind die Ärzte und eine Ärztin dort zwischen 67 und 73 Jahre alt und arbeiten dennoch im MVZ weiter – „weil jüngere Kollegen fehlen“, wie berichtet wird. Anstatt ihre Praxen einfach zu schließen, haben diese Mediziner ihren „Ruhestand 2.0“ eingeläutet: Sie geben ihr Wissen und ihre Arbeitskraft weiterhin an Patienten weiter, allerdings in einem flexiblen Setting. Die Gemeinde bzw. das kommunale MVZ kümmert sich um Organisation und Personal, während die Senior-Ärzte sich auf Sprechstunden konzentrieren. Dieses Modell ermöglicht es, dass die Bevölkerung vor Ort nahtlos weiter hausärztlich versorgt wird, obwohl eigentlich längst die Nachfolgefrage akut war. Die Motivation der Werlter Ärzte ist einerseits die Verbundenheit mit ihren Patienten und dem Beruf – sie „mögen das Arztsein nach wie vor“ – und andererseits die Entlastung von den Mühen einer Einzelpraxis. Wie ein Beteiligter berichtet, hielt man sich in der kritischsten Phase zunächst mit Vertretungsdiensten durch Ruhestandskollegen über Wasser, bis das MVZ personell stabil aufgestellt war. Heute profitieren alle: Die älteren Ärzte können in ihrem Wunschpensum weiterheilen, die jüngeren Ärzte (sofern vorhanden) können sukzessive einsteigen und die Gemeinde hat Planungssicherheit.
Ein weiteres Beispiel ist die Gemeinde Klettgau in Südbaden. Hier zeigte sich im Jahr 2023 ein typisches Bild: Ein alteingesessener Hausarzt ging in den Ruhestand und fand keinen Nachfolger – die Praxis schloss, und rund 8.000 Einwohner standen vor einem Versorgungsproblem. Anstatt dies hinzunehmen, entschied sich die Kommune zum Handeln. Man gründete ein kommunales MVZ und übernahm damit selbst die Trägerschaft für die ambulante Versorgung. Diese vorausschauende Entscheidung fiel noch bevor die Versorgungslücke voll eintrat, und sie erwies sich als rettend: „Die ärztliche Versorgung in Klettgau wäre spätestens ab Januar 2024 ohne ein kommunales MVZ nicht mehr gewährleistet gewesen“, heißt es zur Begründung der Gründung. Nun, wenige Monate später, ist das MVZ Klettgau bereits voll in Betrieb. Vier Ärztinnen und Ärzte – teils in Teilzeit – arbeiten inzwischen dort zusammen mit rund 20 medizinischen Fachangestellten. Darunter befinden sich nach Angaben der Gemeinde sowohl erfahrene Mediziner als auch neuere Kräfte. Flexible Arbeitszeiten, verlässliche Anstellung und Teamarbeit im MVZ haben Klettgau offenbar für Ärzte attraktiv gemacht, trotz der ländlichen Lage. Die Patientenversorgung ist nun gesichert, und es bestehen Pläne, das Angebot noch zu erweitern – etwa durch die Integration eines Facharztes für Frauenheilkunde und eines Kinderarztes. Für die Ärzte bietet das MVZ den Vorteil, dass sie sich auf ihre Patienten konzentrieren können, während Verwaltung, Personal und Infrastruktur von der MVZ-Leitung gemanagt werden. Für jüngere Ärzte schafft es attraktive Bedingungen (geregelte Arbeitszeiten, kein Investitionsrisiko, kollegiales Umfeld) und erleichtert so die Nachfolge. Bürgermeister Ozan Topcuogullari betonte in einem Interview, dass die Gemeinde angesichts fehlender Praxisnachfolger „frühzeitig gegensteuern“ wollte – auch wenn die Gesundheitsversorgung eigentlich keine originäre kommunale Aufgabe ist. Der Erfolg gibt ihm Recht: Klettgau und andere Vorreiter (wie z.B. Marienmünster in Westfalen) zeigen, dass kommunale MVZ nicht nur Lückenfüller sind, sondern nachhaltige Lösungen darstellen. Sie ermöglichen es, Erfahrungsträger im Beruf zu halten und gleichzeitig junge Ärztinnen und Ärzte unter attraktiven Bedingungen anzustellen.
Die genannten Beispiele illustrieren, wie reaktivierte Ruheständler Teil innovativer Versorgungskonzepte werden. Ob als befristete Vertretung, als Mentor für den Nachwuchs oder als feste Größe im kommunalen MVZ – Modelle mit Senior-Ärzten haben sich in der Praxis bewährt. Wichtig ist dabei die Zusammenarbeit aller Akteure: Kommunen, Kassenärztliche Vereinigungen und Ärzteschaft müssen an einem Strang ziehen. Wo es gelingt, entstehen Win-Win-Situationen: Die ältere Generation von Ärzten erhält die Möglichkeit, im gewünschtem Umfang weiterzuarbeiten, die jüngere Generation profitiert vom Wissenstransfer und die Bürger vor Ort behalten den Zugang zu medizinischer Versorgung.
Quellen: Die Ausführungen stützen sich auf aktuelle Veröffentlichungen im Deutschen Ärzteblatt (insbesondere die Umfrage zu Ärzte im Ruhestand und die Ärztestatistik sowie Daten des Statistischen Bundesamts und weitere Fachbeiträge. Praxisbeispiele stammen u.a. aus Berichten der Ärztezeitung (MVZ Werlte) und kommunalen Publikationen (MVZ Klettgau).