Zeitmangel ambulante Versorgung
Ambulante Versorgung: Die Zeit für Patienten wird immer knapper
22. Juni 2025

Hausärztemangel: Die stille Krise der Schweiz

Ärztemangel Schweiz

Abhängigkeit statt Autonomie: Die Schweiz im internationalen Fachkräftewettlauf

Seit Anfang Juni 2025 warnt selbst die Dental-Fachpresse vor einer „dramatisch wachsenden Abhängigkeit“ der Schweizer Gesundheitsversorgung von ausländisch ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten. Konkret wurden 17.600 der insgesamt 42.600 praktizierenden Medizinerinnen und Mediziner an hiesigen Spitälern und Praxen im Ausland ausgebildet – ein Anteil von gut 41 Prozent, der weit über dem OECD-Durchschnitt liegt.

Wer unsere Analyse im Impulse-Magazin von 2019 in Erinnerung hat, wird ein Déjà-vu erleben. Damals sprachen wir von der „Stunde Null“ und mahnten, dass die Schweiz ihren künftigen Bedarf ohne strukturelle Reformen niemals aus eigener Kraft decken könne. Sechs Jahre später bestätigen die offiziellen FMH-Zahlen exakt diese Entwicklung. Ende 2024 waren 42.602 Ärztinnen und Ärzte registriert; ihr Bestand wuchs zwar um 3,7 Prozent, doch gleichzeitig stieg der Ausländeranteil auf 41,3 Prozent, während er 2010 noch bei gut 25% lag. Die Ärztedichte liegt rechnerisch bei 4,1 Vollzeitäquivalenten (VZÄ) pro 1.000 Einwohner – eine respektable Kennzahl im internationalen Vergleich –, in der hausärztlichen Grundversorgung sinkt sie jedoch auf lediglich 0,8 VZÄ. (Lesen Sie auch: Was denn nun – Ärztemangel oder Ärzteboom?)

Hinzu kommt eine demografische Schieflage: Das Durchschnittsalter beträgt knapp 50 Jahre, ein Viertel der Medizinerinnen und Mediziner ist bereits 60 oder älter. Die Datenreihen der Jahre 2017 bis 2024 verdeutlichen, dass sich dieser Alterungseffekt trotz steigender Gesamtzahlen nicht entschärft; die Baby-Boomer-Kohorten verlassen den Arbeitsmarkt schneller, als der Schweizer Nachwuchs nachrückt.

Im europäischen Kontext hebt die OECD 2024 vor allem drei Staaten mit besonders hohem Anteil ausländisch ausgebildeter Ärztinnen und Ärzte hervor: Norwegen, Irland – und die Schweiz. Während andere Länder durchschnittlich bei rund 19 Prozent liegen, überschreitet die Eidgenossenschaft konstant die Marke von 40 Prozent.

Warum also gelingt es nicht, ausreichend inländischen Nachwuchs zu generieren? Ein wesentlicher Faktor ist der lange bekannte Engpass bei den Studienplätzen. Das Bundes-Sonderprogramm von 2017 sah vor, die Zahl der Humanmedizin-Masterabschlüsse bis 2025 auf 1.300 pro Jahr zu steigern. Tatsächlich haben die Universitäten ihre Kapazitäten zuletzt nur geringfügig erhöht – Basel beispielsweise um fünf, Zürich um insgesamt 13 Plätze –, doch das Ziel bleibt weiterhin unerreicht.

Politisch versucht der Bund gegenzusteuern: Im April 2025 aktualisierte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) seine „Strategie gegen den Ärztemangel“. Diese umfasst neben einem Ausbau der Ausbildungskapazitäten neue Skill-Mix-Modelle, wie den breiteren Einsatz von Advanced Practice Nurses, sowie eine Reduktion administrativer Lasten. Gleichzeitig startete im November 2024 die „Agenda Grundversorgung“, ein koordiniertes Arbeitsprogramm von Bund, Kantonen und Berufsverbänden, das bis Ende 2025 konkrete Vorschläge zu besseren Arbeitsbedingungen, Digitalisierung und regionalen Versorgungsnetzen vorlegen soll.

Die Auswirkungen des Mangels sind bereits deutlich sichtbar: Einrichtungen wie Allcare in Zürich-Altstetten oder Sanacare in Luzern mussten Standorte schließen, da trotz intensiver Rekrutierung kein ärztliches Personal gefunden werden konnte. Auch ein Professor für Hausarztmedizin der Universität Bern warnt, dass binnen zehn Jahren knapp die Hälfte der heutigen Allgemeinmediziner pensioniert sein wird.

Vor diesem Hintergrund erscheint die wachsende Abhängigkeit von ausländischen Fachkräften als zweischneidiges Schwert: Sie sichert kurzfristig die Versorgung, erhöht jedoch langfristig die Verwundbarkeit der Schweiz im globalen Wettbewerb um Fachkräfte. OECD-Analysen zeigen bereits einen deutlichen Anstieg der Netto-Migration von Ärztinnen und Ärzten in Länder, die selbst mit Engpässen ringen – etwa Deutschland und Frankreich –, was den Zustrom in die Schweiz erschwert.

Die kommenden Jahre sind entscheidend dafür, ob die Schweiz eine Trendwende schafft. Dafür benötigt sie weit mehr als zusätzliche Studienplätze: Sie braucht echtes Employer Branding im Gesundheitswesen, digitale Entlastung an den Schnittstellen von Pflege und Administration, flexible Arbeitszeit- und Job-Sharing-Modelle, die insbesondere einer zunehmend weiblichen Ärzteschaft entgegenkommen, sowie verlässliche Perspektiven für international rekrutiertes Personal inklusive unkomplizierter Anerkennung ihrer Abschlüsse.

Ohne ein derart umfassendes Maßnahmenpaket droht vor allem in ländlichen Regionen eine weitere Erosion der Grundversorgung. Wer die Signale aus jüngsten Praxisschließungen und aktuellen FMH-Daten ernst nimmt, erkennt: Bis 2030 braucht die Schweiz nicht nur mehr, sondern auch anders organisierte medizinische Versorgung – und die Grundlagen dafür müssen jetzt geschaffen werden. (Lesen Sie auch: Von der Landarzt zur Avatar-Praxis)