Ärzte folgen dem Geld, nicht den Kranken
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Ginge es nach Experten der Bertelsmann Stiftung, müsste jedes zweite Krankenhaus schließen

Mehr als jedes zweite Krankenhaus in Deutschland sollte nach Ansicht der Bertelsmann-Stiftung geschlossen werden, damit die Versorgung der Patienten verbessert werden kann. Derzeit gibt es im Bundesgebiet knapp 1.400 Krankenhäuser, durch die Reform sollten am Ende weniger als 600 größere und bessere Kliniken erhalten bleiben, heißt es in einer veröffentlichten Untersuchung. Die verbliebenen Krankenhäuser könnten dann mehr Fachpersonal und eine bessere Ausstattung erhalten, so das Fazit der Studie.

„Nur Kliniken mit größeren Fachabteilungen und mehr Patienten haben genügend Er­fahrung für eine sichere Behandlung“, betonen die Autoren der Studie. Viele Kompli­kationen und Todesfälle ließen sich durch eine Bündelung von Ärzten und Pflegeper­sonal sowie Geräten in weniger Krankenhäusern vermeiden. Kleine Kliniken verfügten dagegen häufig nicht über die nötige Ausstattung und Erfahrung, um lebensbedroh­li­che Notfälle wie einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall angemessen behandeln zu können.

Nur in ausreichend großen Kliniken könnten Facharztstellen rund um die Uhr besetzt werden. Auch Computertomographen und andere medizinische Großgeräte könnten dann in allen Kliniken bereitstehen. Vor allem die Qualität der Notfallversorgung und von planbaren Operationen lasse sich so verbessern. Auch der Mangel an Pflegekräften könne so gemindert werden. „Es gibt zu wenig medizinisches Personal, um die Klinik­zahl aufrecht zu erhalten“, schreibt Bertelsmann-Projektleiter Jan Böcken.

Tatsächlich verringert sich das Sterberisiko in Kliniken mit größerer Fallzahl. So ermittelten Forscher anhand der Daten von 13 Millionen Klinikpatienten, dass in Häusern mit den meisten Patienten im Schnitt 26 Prozent weniger Todesfälle auftraten als in denen mit den geringsten Fallzahlen. Bei Herzinfarkt lag der Unterschied sogar bei 31 Prozent. Statistisch signifikant waren solche Zusammenhänge bei 19 von 25 untersuchten Indikationen.

Die Situation in Deutschland ist einzigartig

Die Verringerung der Zahl der Krankenhäuser wird in Deutschland seit längerem diskutiert. Im EU-Ländervergleich hat Deutschland vergleichsweise viele Krankenhausstandorte. Für Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn (CDU) ist „ein Krankenhaus vor Ort für viele Bürger ein Stück Heimat.“ Gerade in gesundheitli­chen Notlagen brauche es eine schnell erreichbare Versorgung. Krankenhäuser in ländlichen Regionen erhalten von den Krankenkassen daher auch künftig extra Geld. Vorgesehen sind im nächsten Jahr Finanzspritzen für 120 Kliniken von jeweils 400.000 Euro und damit insgesamt 48 Millionen Euro.

Fast nirgendwo sonst in der Welt werden pro Einwohner so viele Menschen stationär behandelt wie hierzulande. 19,5 Millionen Fälle sind es im Jahr, Tendenz steigend. In Deutschland gibt es auch 65 Prozent mehr Klinikbetten pro Einwohner als im EU-Durchschnitt.

Und mit der Zahl ihrer sogenannten Bettentage liegen die Deutschen sogar um 70 Prozent über dem EU-Schnitt. Das führe „zu der paradoxen Situation, dass es in Deutschland mehr Klinikpersonal pro Einwohner gibt als in anderen Ländern, pro Patient aber weniger“, heißt es in der Bertelsmann-Studie.

Und die vielen Häuser wollen zu tun haben. Aufgrund von Überkapazitäten und betriebswirtschaftlichen Zwängen werden der Expertise zufolge viele Patienten stationär versorgt, bei denen das gar nicht nötig sei. Fünf Millionen Patienten könnten genauso gut ambulant behandelt oder operiert werden. Das entspräche der Fallzahl von 500 mittelgroßen Krankenhäusern, also gut einem Drittel der Gesamtkapazität aller Kliniken. Angesichts von Patientenaufnahme-Stopps in Haus- und Facharztpraxen stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Umstand nicht an einer ausgedünnten fachärztlichen Versorgung in ländlichen Gegenden liegt.

Krankenhausschließungen Deutschland

Was schlagen die Experten vor?

Die finanzielle Lage vieler Krankenhäuser in Deutschland ist prekär. Nach jüngsten Zahlen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) hat jede dritte Klinik 2017 rote Zahlen geschrieben. Die Rationalisierungsreserven seien mittlerweile ausgeschöpft, hatte die Krankenhausgesellschaft erklärt.

Die Autoren der Bertelsmann-Studie schlagen einen zweistufigen Aufbau einer neuen Krankenhausstruktur vor. Neben Versorgungskrankenhäusern mit durchschnittlich gut 600 Betten soll es etwa 50 Universitätskliniken und andere Maximalversorger mit im Schnitt 1.300 Betten geben. Aktuell hat ein Drittel der Krankenhäuser weniger als 100 Betten. Die Durchschnittsgröße der Kliniken liege bei unter 300 Betten.

Die Bertelsmann Stiftung hatte das Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialfor­schung (IGES) mit der Frage beauftragt, wie eine Krankenhausversorgung aussähe, die sich nicht in erster Linie an einer schnellen Erreichbarkeit, sondern an Qualitäts­kriterien orientiert. Dazu gehören beispielsweise eine gesicherte Notfallversorgung, eine Facharztbereitschaft rund um die Uhr, ausreichend Erfahrung des medizinischen Personals sowie eine angemessene technische Ausstattung.

Die DKG warf Bertelsmann vor, die Stiftung propagiere die Zerstörung von sozi­a­ler Infrastruktur in einem „geradezu abenteuerlichen Ausmaß, ohne die medizinische Versorgung zu verbessern“. „Das ist das exakte Gegenteil dessen, was die Kommis­sion ‚Gleichwertige Lebensverhältnisse‘ für die ländlichen Räume ge­fordert hat“, sagte DKG-Präsident Gerald Gaß. Er betonte, das zentrale Qualitäts­merkmal sei der flächendeckende Zugang zu medizinischer Versorgung.

Medizinische Grundversorgung in ländlichen Gebieten in Gefahr

Darüberhinaus lassen die Autoren der Studie völlig außer Acht, dass die ärztlich-ambulante Versorgung in ländlichen Gegenden die kommenden Jahre stark unter Nachwuchsproblemen bei Haus- und Fachärzten leiden wird. Nur mehr jede zweite oder dritte Arztpraxis in diesen Regionen wird einen Nachfolger finden. „Eine starke Einschränkung der Krankenhausstandorte, ist nur möglich, wenn man die gesamte medizinische Versorgungsrealität einbezieht“, so Adrian Dostal, Geschäftsführer der bundesweiten Kommunalberatungsagentur dostal & partner. (Lesen Sie auch: Ärzte folgen dem Geld, nicht den Patienten)

„Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz) verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten eine funktions- und leistungsfähige Gesundheitsinfrastruktur zu gewährleisten, darunter ist auch eine wohnortnahe Versorgung zu verstehen“, so Dostal weiter. „Viele der Kliniken, die den Experten der Bertelsmann Stiftung zu Folge geschlossen werden sollen, befinden sich in eben diesen Regionen. Mit ihnen verschwindet dann der letzte medizinische Hotspot in den betroffenen Gebieten.“ Und weiter: „Es muss davon ausgegangen werden, dass den Autoren die Situation im ambulanten Sektor nicht in ihrer Dramatik bekannt ist, andernfalls ist ihr Ruf nach massiven Krankenhausschließungen nicht nachvollziehbar.“

Keine undifferenzierte Schließungspolitik

Auch der Präsident der Bundes­ärzte­kammer (BÄK), Klaus Reinhardt, bezeichnete die For­derungen der Studienautoren als „mehr als befremdlich“. Die von der Bundesregie­rung eingesetzte „Kommission gleichwertige Lebensverhältnisse“ habe gerade erst die Bedeutung der Daseinsvorsorge und Sicherung einer gut erreichbaren, wohnortnahen Gesundheitsinfrastruktur herausgestellt und das Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter­ium die Förderung von 120 kleineren Kliniken bundesweit beschlossen, sagte er.

Allerdings könne es in Ballungsgebieten mit erhöhter Krankenhausdichte durchaus sinnvoll sein, dass Ärzte und Pflegepersonal in größeren Strukturen Patienten be­han­delten. Dadurch könnten Abläufe vereinfacht und die zunehmende Arbeitsverdich­tung gemildert werden. Reinhardt warnte aber vor einer undifferenzierten Schließungs­po­litik.

„Gerade im ländlichen Raum müssen wir die flächendeckende Versorgung der Patien­ten sicherstellen. Deshalb müssen wir mehr als bisher die sektorübergreifende Ver­sorgung gemeinsam mit den niedergelassenen Ärzten ausbauen“, so Reinhardt.

„Wer auch immer mit welchen Ideen den Krankenhaussektor verändern will, muss dem grundgesetzlichen Auftrag der Daseinsvorsorge, der Gleichheit der Lebensver­hält­nisse und dem Feuerwehrwehr-Prinzip der Krankenhäuser im Katastrophenfall gerecht werden“, mahnte er. Vor allem aber müsse man Optionen diskutieren, wie man der zunehmenden Behandlungsbedürftigkeit in der Gesellschaft bei gleichzeiti­gem Fach­kräftemangel begegnen wolle. „Auch wenn wir die Zahl der Krankenhäuser reduzieren, reduzieren wir dadurch ja nicht die Zahl der Behandlungsfälle“, sagte Reinhardt.

Daseinsvorsorge statt Profitorientierung

Rudolf Henke, 1. Vorsitzender des Marburger Bundes (MB), betonte, Planungsent­schei­dungen würden in den Ländern getroffen und nicht am grünen Tisch der Bertels­mann-Stiftung. Es lasse sich „aus der Warte von Ökonomen leicht von Zentralisierung und Kapazitätsabbau fabulieren, wenn dabei die Bedürfnisse gerade älterer, immobiler Menschen unter den Tisch fallen, die auf eine wohnortnahe stationäre Grundversor­gung angewiesen sind“, sagte er. Versorgungsprobleme würden nicht dadurch gelöst, dass pauschal regionale, leicht zugängliche Versorgungskapazitäten ausgedünnt würden.

Ministerium reagiert zurückhaltend

Das Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter­ium hat zurückhaltend auf die Studie reagiert. „Wir haben diese Studie zur Kenntnis genommen und schauen uns die genauer an“, sagte eine Sprecherin des Ministeriums. Sie verwies darauf, dass für die Kranken­haus­­pla­­nung die einzelnen Bundesländer verantwortlich seien. Diese müssten eine „bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung“ sicherstellen. (Lesen Sie auch: Die Telemedizin soll Arztpraxen in ländlichen Regionen in Zukunft entlasten)

Grundsätzlich habe Deutschland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich viele Krankenhausbetten und Kliniken. Es gehe aber nicht nur „um die schiere Anzahl von Häusern“, sondern „vor allem um eine erreichbare und qualitativ hochwertige Versorgung“.

Quelle: Bertelsmann-Stiftung, Studie 2019

Hier geht es zur Studie: Lösung des Ärztemangels: Zahlen, Daten & Fakten. Eine Grundlagendarstellung.