Ärztemangel in Sachsen
Warnstufe Rot: Hausarztkrise in Sachsen
15. Mai 2025

Von der Landarzt- zur Avatarpraxis – das Modell der Zukunft?

Avatar-Praxis

Impulse im Gespräch mit Frau Tanja Gerlach, Innovationskoordinatorin der Praxis Gerlach & Kollegen, in Scheeßel (Landkreis Rotenburg, Niedersachsen). Das interdisziplinäre Ärzteteam (Allgemein-, Reise-, Betriebsmedizin) verbindet Prävention, Telemedizin und Avatarpraxis zu einem zukunftsfähigen Versorgungskonzept. Vom Standort Scheeßel aus setzt das Team damit neue Maßstäbe in der digitalen Patientenversorgung.

Das Interview für Impulse führte Luise Viktoria Ruß.

Impulse: Frau Gerlach, Sie haben aus eigenem privaten Engagement eine Praxis aufgebaut, die unter dem Begriff „Avatarpraxis“ als Modellprojekt und „Blick in die Zukunft“ bezeichnet wird. Mit welchen Schlagworten würden Sie diese kurz beschreiben? (Lesen Sie auch: KI-Revolution in der Arztpraxis)

Gerlach: digital – menschlich – professionell – fortschrittlich. Redundanzen abbauen, um mehr Zeit für das Wesentliche zu erhalten. Delegative Kompetenzen erweitern zugunsten einer neuen Praxisstruktur. KI ist die Zukunft, deswegen: KI viel einbinden zur Ressourcenschonung und medizinischen Optimierung. Und das Wichtigste: Spaß! Es macht viel Spaß, Situationen zu verbessern, zu sehen, wie aus einer Idee eine funktionierende Realität wird. Die Avatarpraxis ist die Zukunft, die bereits begonnen hat. Sie ist eine hybride Lösung in allen Bereichen, denn ohne persönlichen Kontakt wird es nicht gehen. Aber: Wir können alles drumherum so gestalten, dass Redundanzen entfernt werden, die Logik Einzug hält und jede Ressource auf ihrem Gebiet sinnvoll eingesetzt wird.

Impulse: Wie kamen Sie und Ihr Mann auf die Idee Ihre Praxis in der aktuellen Form aufzubauen. Können Sie für unsere Leserinnen und Leser die Entwicklungsschritte schildern? Was waren die großen Herausforderungen, die Sie meistern mussten und heute auch noch meistern müssen?

Pschunder: 2017 markierte die erste große Veränderung. Mein Mann kam müde und frustriert von der Arbeit nach Hause. Unsere sechs Kinder fragten ständig, wo Papa ist, ich fragte mich, wo das Geld auf dem Konto bleibt – und begann, mich in die Thematik der Abrechnung und Organisation in der Medizin einzuarbeiten. Wir stellten Systeme um, kündigten das alte PVS, nahmen Controlling als wesentlichen Faktor in die Praxisanalyse mit auf. Mit Corona kam die Videosprechstunde als wesentliches Element unserer Praxis. Das war ein kleiner Schritt für digitalisierte Menschen, aber ein großer Schritt für die ambulante Medizin. Plötzlich war es möglich, Menschen zu behandeln, die physisch nicht anwesend waren – großartig! Und als wir eines Abends zusammen saßen, las mein Mann mir vor, dass die schwedische Band ABBA ihr erstes Avatarkonzert gegeben haben von Stockholm nach London. Die übergeordnete Idee war geboren: an mehreren Orten gleichzeitig sein, um immer dort zu sein, wo es nötig ist – das markierte die Geburtsstunde der Avatarpraxis.

Wir gingen sehr naiv an die Sache heran. Von unserer Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen erhielten und erhalten wir noch heute große Unterstützung in emotionaler Hinsicht. Wir haben bisher nicht einen Cent Fördermaßnahmen erhalten, was oft hart gewesen ist – uns aber gleichzeitig unabhängig gemacht hat. Es kamen auch Anfragen von Investoren, aber die hatten wir in der Anfangsphase unbeantwortet gelassen. Mir war das Risiko zu hoch, es nicht zu schaffen und dann jemanden Rede und Antwort stehen zu müssen, auch finanziell. Ich bin so oft morgens aufgewacht und habe meinem Mann gesagt „lass uns aufhören damit und einfach das nötige Geld für die Familie verdienen mit der Praxis und Betriebsmedizin (Jan Gerlach ist unter anderem auch Betriebsmediziner, Anm. der Red.)“. Wir sind seit 26 Jahren zusammen, wir haben uns immer gegenseitig gezogen in solchen Momenten. Nie aufgeben, einfach weitermachen. Jetzt steht das Gerüst Avatarpraxis sicher auf stabilen Säulen. Landkreise wollen das Avamobil, Ärzte wollen in ein Avanetzwerk, die nächsten Avatarpraxen stehen in den Startlöchern. Und was für uns mehr als wichtig ist: Wir haben unseren Kindern damit vorgelebt, dass man hinfällt, um wieder aufzustehen. Immer wieder.

Impulse: Ich bedanke mich für diese offene und emotionale Schilderung der Entstehungsgeschichte der Avatarpraxis! Sie sprachen auch von einer Home-Office-Möglichkeit für Ärzte, was kann ich mir darunter vorstellen und warum ist dies Ihrer Erfahrung nach so attraktiv?. Welche Behandlungszweige stehen hierbei im Fokus und wie organisieren Sie die Terminierung?

Gerlach: Viele Bereiche der ambulanten Versorgung gehören zur sprechenden Medizin und zum Verwaltungsaufwand. Wir müssen bei etwa 15 Prozent des Alltagsgeschäfts physisch zugegen sein, die restliche Zeit kann problemlos über die Videosprechstunde repsektive im Home Office geleistet werden. Die Avatarpraxis zielt auf die Ärzte und Ärztinnen ab, die uns ansonsten verloren gehen würden. Ich meine damit Ärzte und Ärztinnen, die ohne das Konzept Avatarpraxis ihre Praxis aus Altersgründen einfach aufgeben, Ärztinnen während der Schwangerschaft oder in Elternzeit, und Ärzte und Ärztinnen, die nie aufs Land ziehen würden. Aber durchaus bereit sind, dort zu arbeiten, wenn die Umgebungsvariablen stimmig sind. Und das ist heutzutage Home Office, Konzentration der Arbeitszeit auf weniger als fünf Tage, flexible Gestaltung der Arbeitszeiten. Geld ist ihnen weniger wichtig als ein stimmiges Leben. Sie wollen entscheiden, wann sie arbeiten.

Alles rund um die sprechende Medizin kann hier eingearbeitet werden, das betrifft auch Facharztgespräche. Die Organisation in unseren Praxen liegt in den Händen der Praxismanagerin mithilfe eines bestimmten Timetables, in dem sich die Ärzte eintragen.

Impulse: Wie waren und sind die Reaktionen Ihrer Berufskollegen auf diese neue Praxisform?

Gerlach: Ignorierend bis begeistert. Wobei letztes deutlich überwiegt. Es gilt hier, viel Arbeit vor Ort zu machen bei und mit denen, die es betrifft. Qualitätszirkel, Einladungen, die Avatarpraxis anzugucken, Gespräche nach Feierabend. Es fehlt den Ärzten oft die Zeit, sich damit noch zu befassen. Vor wenigen Wochen haben wir einen Arzt kennengelernt, der unser Treffen zwischen der Arbeit in der Praxis und den Hausbesuchen eingeplant hatte. Er war anfänglich sehr genervt und pochte darauf, wenig Zeit zu haben. Wir redeten, er fuhr erst einmal die Hausbesuche, und anschließend saßen wir bis 20 Uhr zusammen und erklärten alles in Ruhe. Das Onboarding ist in diesem Thema alles, sowohl bei den Ärzten als auch bei den Mitarbeitern.

Impulse: Soviel ich weiß, arbeiten Sie gerade an mehreren Hochschulprojekten, was hat es damit auf sich?

Gerlach: Gemeinsam mit der Universität Oldenburg erarbeiten wir sinnhafte Konzepte im Bereich der KI-Nutzung. Was muss, was geht, was wird nicht funktionieren – dank eines EU-Projekts können wir uns gemeinsam mit den führenden Köpfen in diesen Bereichen austauschen und erweitern. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Einbettung digitaler Elemente in die Ausbildungspläne von Ärzten und Medizinischen Fachkräften. Zudem bauen wir gerade einen tatsächlichen Avatar von Jan Gerlach. Das ist sehr spannend und herausfordernd zugleich, denn es zeigt, das wir uns trotz aller Fortschritte noch am Anfang der Reise befinden.

Impulse: Und wie war die Reaktion der KV Niedersachsen hierauf? In welcher Form können Sie diese Leistungen bereits vollabrechnen, wo gibt es Nachbesserungsbedarf aus Ihrer Sicht?

Gerlach: Die KVN ist an unserer Seite und hat viele anfängliche Problemsituationen gemeinsam mit uns durchgestanden. Das ist zunächst genauso wichtig wie eine Ziffer. Pionierarbeit wird immer erst im Nachhinein als gut erachtet, anfänglich muss man durchhalten und einen langen Atem haben. Jetzt geht es an die Umsetzung in Form neuer Abrechnungsmodalitäten. Das kann und ist nicht Aufgabe der KVN, sondern der Bundespolitik. Aber auch hier unterstützt uns die KVN nachhaltig in Form von Gesprächen, Forderungen an die Politik, regem Austausch und einer fundierten „Just-do-it“-Mentalität. Die KV Niedersachsen dominiert auf Bundesebene deutlich in den digitalen und Innovationsbereichen in der ambulanten Versorgung, und es freut uns, ein Teil dessen zu sein. Bestes Beispiel ist neben der Avatarpraxis die Abschaffung des KV-Notdienstes. Statt nerviger Fahrdienste gibt es ab Sommer eine organisierte Videosprechstunde. Hier merkt man: Die KVN hat begriffen, dass junge Ärzte mit guten Ideen und interessanten Arbeitsmodalitäten nach Niedersachsen geholt werden können. Und sie setzen dies auch um. Cool! (Lesen Sie auch: Ärztemangel in Niedersachsen)

Impulse: Das freut mich! Wie hoch schätzen Sie das Duplizierungspotenzial Ihrer Herangehensweise. Welche Grundlagen müsste eine Praxis bieten, um ihre Erkenntnisse zu nutzen? Was würden Sie als größte Schwierigkeit sehen?

Gerlach: Keine andere Idee kann so schnell so einfach in die Fläche gebracht werden wie die Avatarpraxis, unabhängig vom Ausgangszustand der Praxis. Stellen Sie sich die Avatarpraxis vor wie einen Werkzeugkoffer, der für jeden das richtige Tool bereithält. Egal, welche PVS Sie haben, auf welchem Stand ihre Mitarbeiter sind und ob Sie sich für digitale Medizin interessieren, wir holen Sie ab.

Impulse: Frau Gerlach, haben Sie vielen lieben Dank für diese faszinierende Unterhaltung! Ich wünsche Ihnen bei der weiteren Arbeit und künftigen Innovationen viel Erfolg und Tatkraft!