Ärztemangel in Sachsen – Fakten, Prognosen und was jetzt geschehen muss, damit die ambulante Versorgung bis 2035 nicht kollabiert
In Sachsen wird das Wort „Ärztemangel“ längst nicht mehr nur in Fachkreisen diskutiert; Patienten spüren ihn täglich. 373 Hausarztsitze sind laut aktueller Bedarfsplanung (2024) schon heute unbesetzt, in manchen Mittelbereichen liegen die Wartezeiten für einen Termin deutlich über dem, was man als wohnortnahe Versorgung bezeichnen kann. Mediale Aufmerksamkeit erlangte die Eröffnung einer neuen Hausarztpraxis in Görlitz im vergangenen Jahr. Eine Warteschlange von mehr als hundert Meter und Menschen die laut eigener Aussage seit 4:45 Uhr morgens im strömenden Regen vor dem Eingang Platz nahmen, um überhaupt eine Chance auf einen Platz zu haben. Binnen weniger Wochen verhängte die Praxis einen Aufnahmestopp. Die Szene veranschaulicht eindrücklich, welchen Druck der bestehende Ärztemangel inzwischen selbst in mittelgroßen Städten wie Görlitz (Versorgungsgrad 86,3%) erzeugt. (Lesen Sie auch: Zukunft der ärztlichen Versorgung im Freistaat Sachsen)
Ein neues Gutachten des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), das das Gesundheitsministerium beauftragt hat, zeichnet die Perspektive bis 2035 nach – und sie ist alles andere als beruhigend.
Das Gutachten aktualisiert eine Untersuchung von 2016 und belegt, wie schnell sich das Problem verschärft hat: Im Juni 2019 meldete die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen noch 248,5 unbesetzte Hausarztsitze; Ende 2025 dürften es rund 450 offene Stellen werden. Parallel altert die Ärzteschaft rapide. Mehr als die Hälfte der Hausärzte, Internisten, Orthopäden oder Chirurgen ist 55 Jahre oder älter; viele Praxen suchen bereits jetzt händeringend Nachfolger. Für jede freiwerdende Vollzeitstelle braucht es wegen vermehrter Teilzeit mittlerweile 2,3 Mediziner, um dieselbe Leistungsmenge abzudecken – ein Faktor, der die Lücke zusätzlich vergrößert.
Bereits 2023 waren nur mehr 13 von 48 hausärztlichen Planungsbereichen vollversorgt, die Hälfte (!) der Planungsbereiche in Sachsen galt gem. KV Sachsen als unterversorgt bzw. drohend unterversorgt.
Der Zeitpunkt könnte ungünstiger kaum sein: Ab 2030 wird Sachsen das Bundesland mit der ältesten Bevölkerungsstruktur in Deutschland sein. Das bedeutet mehr chronische Erkrankungen, mehr multimorbide Patienten und eine höhere Nachfrage nach Haus‑ wie Fachärzten – genau dort, wo die Versorgerbasis bröckelt.
Auf dem Land wirkt dieser Trend wie durch ein Brennglas. Fehlende ÖPNV‑Anbindung und eine immer noch lückenhafte Breitbandversorgung schrecken junge Ärztinnen und Ärzte ab, sich in Dörfern oder Kleinstädten niederzulassen. Telemedizin könnte vieles auffangen, stößt aber ohne stabiles Netz schnell an praktische Grenzen. Für Patientinnen und Patienten bedeuten diese strukturellen Defizite längere Anfahrtswege, nicht selten sogar die Vorstellung in einer Notaufnahme, weil keine Praxis, die noch Patienten aufnimmt, in erreichbarer Nähe ist.
Die Landespolitik hat reagiert. Hausarztstipendium, Landarztquote, Förderprogramme zur Niederlassung oder die Stärkung von Weiterbildungsverbünden sollen junge Mediziner frühzeitig an den Freistaat binden. Die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen geht mit Versorgerpraxen, mobilen Behandlungseinheiten und Telekonsilen neue Wege. Doch das Zi‑Gutachten macht deutlich: Die bisherigen Maßnahmen reichen nicht, um die prognostische Lücke zu schließen. Es listet mehrere Handlungsfelder auf, die jetzt energisch bearbeitet werden müssen:
Erstens müssen Ausbildungskapazitäten weiter ausgebaut werden. Schon heute bilden die sächsischen Universitäten zusätzliche Kohorten aus, doch angesichts des Nachbesetzungsfaktors genügt das nicht. Mentorenprogramme und Stipendien, die frühzeitig an eine spätere Tätigkeit im Freistaat knüpfen, erhöhen die Bindungswahrscheinlichkeit.
Zweitens braucht es hybride Versorgungsmodelle, in denen mobile Teams, Televisiten und Versorgerpraxen mit delegationsfähigen Leistungen kombiniert werden. Modellprojekte im Vogtland oder in Löbau‑Zittau zeigen, dass solche Konzepte funktionieren. Der Skalierung steht vor allem die unzureichende digitale Infrastruktur entgegen – ein Problem, das die Landesregierung als Gesundheitsinfrastruktur begreifen und entsprechend priorisieren muss.
Drittens ist ein massiver Bürokratieabbau erforderlich. Jede Stunde Formulararbeit raubt wertvolle Patientenkontakte und macht die Niederlassung unattraktiv. Digitale Schnittstellen, schlankere Genehmigungswege und automatisierte Abrechnungsprozesse können die ambulante Arbeit deutlich erleichtern. Schon heute verbringt im Schnitt ein niedergelassener Hausarzt mehr Zeit mit der Dokumentation und Administration als mit der Behandlung selbst. (Lesen Sie auch: Unzufriedenheit niedergelassener Ärzte nimmt dramatisch zu)
Schließlich darf man die Standortqualität nicht aus den Augen verlieren. Junge Mediziner wechseln nicht nur wegen höherer Gehälter in die Großstadt, sondern auch, weil dort Kinderbetreuung, Arbeitsplätze für Partnerinnen und Partner oder kulturelle Angebote besser ausgebaut sind. Wer eine Praxis im Erzgebirge oder in der Oberlausitz attraktiv machen will, muss eine Gesamtstrategie aus medizinischer Infrastruktur, Lebensqualität und digitaler Anbindung vorlegen.
Die Diagnose ist gestellt: Die ärztlichen Ressourcen werden knapper, während der Versorgungsbedarf wächst. Das Zi‑Gutachten liefert eine solide Datenbasis, doch Daten heilen keine Patienten. Sachsen kann sich zum Modell für eine moderne, patientennahe und digitale Versorgung entwickeln – wenn Studium, Infrastruktur, neue Praxisformen und weniger Bürokratie jetzt konsequent zusammengedacht werden. Geschieht das nicht, wird der Ärztemangel in den nächsten zehn Jahren vom Warnsignal zur akuten Gefährdung der Gesundheitsversorgung. Die Weichen stellt man heute. Wer sie stellt, entscheidet über die ärztliche Versorgung von morgen.