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Daseinsvorsorge reloaded: Warum Kommunen jetzt Verantwortung für die ärztliche Versorgung übernehmen müssen

Ärztemangel

Die medizinische Versorgung im ländlichen Raum steht unter massivem Druck. Hausärzte, die über Jahrzehnte die Versorgung in kleineren Gemeinden sichergestellt haben, gehen nach und nach in den Ruhestand. Die Nachwuchsproblematik ist allgegenwärtig, insbesondere in strukturschwachen Regionen. Während Metropolen und größere Städte nach wie vor attraktiv auf junge Medizinerinnen und Mediziner wirken, kämpfen kleinere Städte und Gemeinden mit Nachwuchsmangel, leeren Praxisräumen und wachsender Sorge um die Versorgungssicherheit ihrer Bevölkerung. 

Kommunen sind hier längst nicht mehr nur Zuschauer – sie müssen mancherorts aktiv Verantwortung übernehmen. Die Sicherstellung der Daseinsvorsorge, insbesondere der ambulanten medizinischen Versorgung, wird zur kommunalen Aufgabe.

Zwischen Ärztemangel und neuen Versorgungsmodellen

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung wird bundesweit jeder zweite Hausarzt in den kommenden Jahren altersbedingt ausscheiden. Der Ärztemangel verschärft sich dabei nicht nur quantitativ, sondern auch strukturell. In vielen Regionen fehlen bereits heute ausreichend Nachfolger, um bestehende Praxen zu übernehmen – Tendenz steigend.

Eine Ursache dafür liegt auch im Wandel des Berufsbildes. Junge Ärztinnen und Ärzte streben heute seltener eine eigene Praxis an, sondern suchen Anstellungen in MVZ oder Klinikstrukturen. Die hohe Verantwortung und wirtschaftlichen Risiken der Selbstständigkeit wirken abschreckend – und werden durch den Trend zur Teilzeitarbeit zusätzlich verschärft. Der Kostendruck, dem Arztpraxen in den letzten Jahren ausgesetzt waren, wirkte zusätzlich abschreckend. Bundesweit stiegen im stationären und ambulanten Bereich die Kosten seit 2021 um insgesamt sieben Prozent stärker an als die Erlöse. Eine Delegation der arztentlastenden medizinischen Aufgaben auf kostengünstigere Personalgruppen ist daher ein Muss und erfordert aufgrund der notwendigen Kompetenzbreite größere Praxiseinheiten.

Aktuelle Erhebungen zeigen: Ein wachsender Teil der jungen Mediziner bevorzugt flexible Arbeitszeitmodelle. Teilzeitlösungen sind längst kein Einzelfall mehr, sondern ein struktureller Wandel. Für eine ausscheidende ärztliche Vollzeitkraft müssen heute oft zwei oder mehr Teilzeitkräfte gewonnen werden, um die gleiche Versorgungskapazität aufrechtzuerhalten. Die „1:1-Nachbesetzung“ ist damit ein überholtes Konzept. (Lesen Sie auch: Der Wandel in der ambulanten ärztlichen Versorgung)

Kommunale Gesundheitszentren als Antwort

Kommunale Medizinische Versorgungszentren (MVZ) bieten hier eine Lösung. Sie ermöglichen es, hausärztliche und fachärztliche Versorgung auch in schwierigen Lagen zu sichern. Kommunen schaffen so die Möglichkeit, Versorgungslücken gezielt zu schließen, wo sich nicht genügend privatwirtschaftliche Akteure finden lassen.

Best Practices zeigen: Kommunale MVZ können nicht nur zur Versorgungssicherung beitragen, sondern auch gezielt attraktivere Arbeitsbedingungen für junge Ärztinnen und Ärzte schaffen. Flexiblere Arbeitszeitmodelle, verlässliche Anstellungsverhältnisse und die Möglichkeit zur Teamarbeit senken die Hemmschwelle, sich in strukturschwachen Regionen niederzulassen. Erste telemedizinische Konzepte basierend auf Physician Assistants erlauben sogar in eingeschränktem Maße Homeofficetage für Ärzte.

MVZ Klettgau Die ärztliche Versorgung in Klettgau (Baden-Württemberg) wäre spätestens ab Januar 2024 ohne ein kommunales MVZ nicht mehr gewährleistet gewesen, da ein weiterer Arzt ohne Nachfolge seine Praxis schloss. Die Sicherstellung der Primärversorgung für über 8.000 Menschen war die zentrale Motivation für die Gründung. Die flexible Gestaltung von Arbeitszeiten sowie der Aufbau eines Teams aus angestellten Ärzten und medizinischem Fachpersonal macht Klettgau für junge Medizinerinnen und Mediziner attraktiver – trotz ländlicher Lage. Mittlerweile arbeiten vier Ärztinnen und Ärzte sowie 25 Medizinische Fachangestellte im MVZ. Geplant ist darüber hinaus auch die Integration eines Frauen- und Kinderarztes. (Lesen Sie auch: Wir feiern das 1-jährige Bestehen des MVZ Klettgau – Interview)

MVZ Marienmünster: Auch in der Stadt Marienmünster (Westfalen-Lippe) würde es ohne das kommunale MVZ keine hausärztliche Versorgung mehr geben. Für die durch das MVZ übernommene Gemeinschaftspraxis fanden sich abgesehen von der Kommune keine Interessenten. Nach dem Wegfall der letzten Praxis wurde die Gründung des MVZ zur Chefsache erklärt. Entscheidender Erfolgsfaktor war die enge Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung, KV und externen Beratern. Das MVZ bietet jungen Ärztinnen und Ärzten heute attraktive Arbeitsbedingungen – mehrere Mediziner konnte seitdem erfolgreich gewonnen werden, darunter auch ein Facharzt für Neurologie.

Die kommunale Verantwortung im Bereich der Gesundheitsversorgung ist kein theoretisches Konstrukt. Klettgau und Marienmünster sind Beispiele dafür, wie kommunale Akteure erfolgreich in die Primärversorgung eingreifen. Sie zeigen, dass kommunale MVZ mehr sind als reine „Praxen in anderer Trägerschaft“. Sie bieten integrierte Lösungen, die auch präventive und soziale Beratungsangebote beinhalten und Synergien mit bestehenden Akteuren vor Ort suchen. (Lesen Sie auch: Herausforderungen bei der Gründung kommunaler MVZ – Interview mit Marienmünster Bürgermeister)

Gleichzeitig wird die Rolle der Kommunen durch den demografischen Wandel weiter gestärkt: Mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung steigen die Anforderungen an eine wohnortnahe, koordinierte Versorgung.

Handlungsdruck und strategische Optionen

Die Übernahme der Verantwortung für die medizinische Versorgung bedeutet für viele Kommunen Neuland. Dennoch ist klar: Wer jetzt handelt, verschafft sich Gestaltungsspielraum. Die Alternativen sind oft weniger attraktiv: Ein unregulierter Rückzug der medizinischen Versorgung führt nicht nur zu Versorgungsengpässen, sondern wirkt sich auch auf die Standortattraktivität und Lebensqualität negativ aus.

Die Gründung eines kommunalen MVZ kann zur Klammer für ein abgestimmtes Versorgungsangebot vor Ort werden. Dabei bietet der öffentliche Auftrag den Vorteil, auch weniger lukrative, aber gesellschaftlich wichtige Angebote wie Palliativversorgung oder psychosoziale Beratung zu sichern.

Neben der Gründung klassischer kommunaler MVZ rückt zunehmend auch das Modell der Regionalen Versorgungszentren (RVZ) aus Niedersachsen in den Fokus bundesweiter kommunaler Strategien. Diese Zentren gehen über die hausärztliche Grundversorgung hinaus und bieten eine integrierte Versorgung unter einem Dach – häufig ergänzt durch sozialmedizinische Angebote, Pflegeberatung und Telemedizin. RVZ bündeln verschiedene Akteure des Gesundheitswesens und stellen sicher, dass auch in ländlichen Räumen eine sektorenübergreifende Versorgung möglich wird. Für viele Kommunen ist dies die logische Weiterentwicklung eines MVZ, um breitere Bevölkerungsschichten nachhaltig zu versorgen und Kooperationen über Gemeindegrenzen hinweg zu ermöglichen.

Fazit

Kommunale Gesundheitszentren und MVZ sind keine Konkurrenz zu bestehenden Praxen – sie sind ein notwendiges Element moderner Daseinsvorsorge. Angesichts der strukturellen Herausforderungen des Gesundheitssystems gilt es, diese Verantwortung frühzeitig anzunehmen und passgenaue Versorgungsmodelle zu etablieren.

Ein gut geplantes kommunales MVZ ist dabei weit mehr als eine klassische Arztpraxis unter öffentlicher Trägerschaft: Es ist ein Zukunftsmodell für die wohnortnahe Versorgung – besonders dort, wo der Markt versagt.

Es bleibt abzuwarten, welche gesundheitspolitischen Weichenstellungen die Bundespolitik in den kommenden Monaten treffen wird. In den anstehenden Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene stehen Themen wie die Stärkung kommunaler MVZ, die bessere Steuerung der Bedarfsplanung sowie eine mögliche Regulierung investorenbetriebener MVZ im Raum. Gerade für ländliche Regionen wäre eine klare Positionierung zugunsten der Daseinsvorsorge und kommunaler Lösungen ein wichtiges Signal. Gleichzeitig wird auch diskutiert, wie der Aufbau von Regionalen Versorgungszentren bei gleichzeitigem Rückzug von Krankenhäusern in der Fläche stärker gefördert werden könnte. Bereits jetzt sind die Auswirkungen der Krankenhausreform und des damit verbundenen Rückbaus von Krankenhausabteilungen z.B. in Nordrhein-Westfalen spürbar. Die kommenden Entscheidungen werden daher die Rahmenbedingungen für Kommunen maßgeblich beeinflussen.