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Wir feiern die Gründung des jüngsten kommunalen MVZ – Interview

kommunales MVZ

Ozan Topcuogullari, Bürgermeister der Gemeinde Klettgau (Baden-Württemberg), im Interview mit Impulse über die Errichtung des kommunalen MVZ Klettgau und die Herausforderungen im Laufe der Gründung.

kommunales MVZ Klettgau

Ozan Topcuogullari, seit 2017 Bürgermeister der südbadischen Gemeinde Klettgau, im Interview mit dem Kommunalmagazin Impulse über die Errichtung des kommunalen MVZ Klettgau und die Herausforderungen im Laufe der Gründung.

Das Interview für Impulse führte Luise Viktoria Ruß.

Impulse: Herr Topcuogullari, am 11. September 2023 wurde die MVZ Klettgau GmbH, als Trägergesellschaft des zukünftigen Medizinischen Versorgungszentrums im Ortsteil Grießen, gegründet. Aktuell finden die letzten Schritte zu Inbetriebnahme am 02. Januar 2024 statt, für Patientinnen und Patienten öffnet das MVZ dann am 08. Januar seine Pforten. Wie kam es ursprünglich zur Überlegung eine solche Lösung überhaupt anzustreben? Die Gemeinde betrat hiermit definitiv Neuland, das MVZ Klettgau ist das vierte kommunale MVZ in Baden- Württemberg – und Nr. 36 in Deutschland. (Lesen Sie auch: 400 neue Medizinische Versorgungszentren)

Topcuogullari: Die ärztliche Versorgung im ländlichen Raum wird immer prekärer. Ärzte, die in Ruhestand gehen, finden keine Nachfolger für Ihre Praxen. Somit schließen sie und es geht eine wichtige Versorgung in der Kommune verloren. Hier wollten wir aktiv frühzeitig gegensteuern, obwohl es eigentlich keine kommunale Aufgabe ist.

Man muss sich zunächst überlegen, warum junge Ärzte keine Praxis übernehmen. Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Nach Beendigung des Medizinstudiums möchten die jungen und gut ausgebildeten Ärzte sich nicht überschulden mit dem Kauf einer Bestandspraxis oder den Kosten für die Neugründung einer Praxis. Zusätzlich müsste Personal gesucht werden etc. Das finanzielle Risiko für Ärzte und die administrative Arbeit, also die Personalsuche und Praxisausstattung können wir als Kommune übernehmen. Man muss sich überlegen: Warum hat eine Person Medizin studiert? Die Antwort ist klar: Sie will Menschen helfen, am Patienten „arbeiten“ und sich eben nicht mit den Nebendingen beschäftigen.

Mit dem MVZ können wir dazu geregelte Arbeitszeiten und eine fixe Bezahlung anbieten. Da in einem MVZ mehrere Ärzte gleichzeitig angestellt sind, ist auch die Urlaubsvertretung gewährleistet, so dass nach Rückkehr aus dem Urlaub nicht erst die sich angestaute administrative Arbeit abgearbeitet werden muss. Diese Gesamtkombination macht eine Anstellung in einem kommunalen MVZ so attraktiv.

Impulse: Die Gemeinde Klettgau gründete das kommunale Medizinische Versorgungszentrum als „Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)“. Wieso haben Sie sich für diese Rechtsform entschieden?

Topcuogullari: Als GmbH kann die Gemeinde einzige Gesellschafterin sein. Somit können wir allein und schnell notwendige Entscheidungen treffen und auf Situationen reagieren. Bei der Genossenschaftsform hätten wir erst noch weitere Genossen finden müssen, wie zum Beispiel andere Kommunen oder eine Krankenhausgesellschaft. Somit hätten wir aber ein Stück weit Entscheidungen aus der Hand gegeben. Als GmbH wissen alle: Die Gemeinde steht dahinter.

Impulse: Wie gestaltete sich der Gründungsprozess? Was waren hier die größten Herausforderungen, gab es sogar streckenweise Rückschläge, sodass das Projekt in Gefahr zu sein schien? Das kommunale MVZ Klettgau übernimmt ja keine Bestandspraxen, sondern startet mit zwei Ärzten von außerhalb.

Topcuogullari: Bei einer Neugründung gibt es immer Rückschläge. Die Frage ist, wie man darauf reagiert. Die größte Hürde bei einem MVZ ist es, wie in vielen anderen Bereichen auch, Personal zu finden. Die beste Ausstattung und die geeignetsten Räumlichkeiten nützen nichts, wenn das Personal fehlt. Andererseits nützt es auch nichts, gutes Personal aber keine Räume zu haben. Die Kunst ist es, beide Dinge auf einen Punkt zu bringen. Wir hatten das Glück, schon vor der Gründung Gespräche geführt zu haben mit interessierten Ärzten.

Somit konnten wir diese in den Gründungsprozess mit einbinden, also die Raumaufteilung besprechen, die Praxisausstattung nach deren Wünschen beschaffen usw. Diese Zusammenarbeit ist extrem wichtig, schließlich schaffen wir als Gemeinde den Arbeitsplatz für diese Personen. Sie sollen sich dort wohlfühlen.

Da wir keine Bestandspraxen übernehmen, mussten wir die Planung von null beginnen. Als Räumlichkeit dient das gesamte Erdgeschoss des Rathauses Grießen, welches in kürzester Zeit mit hohem Engagement der örtlichen und überörtlichen Handwerksbetriebe umgebaut wurde. Wir haben optimale Raum- und Arbeitsbedingungen geschaffen. Die Idee, das Erdge- schoss des Rathauses für das MVZ zur Verfügung zu stellen hat uns sicherlich 3 Jahre Zeitersparnis gebracht gegenüber eines kompletten Neubaus. Richtig gefährdet war das Projekt nie. Lediglich der Start hätte sich um eine kurze Zeit verschieben können. Aber dazu ist es ja glücklicherweise nicht gekommen.

Impulse: Wie verliefen die Verhandlungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg? Wie haben Sie die Sicherheitsleistung der KV gegenüber erbracht? Der Betrag in Höhe von rd. 3,6 Mio. Euro ist ja nicht ganz unwesentlich?

Topcuogullari: Zunächst gingen wir von einer Sicherheitsleistung von ca. 1,2 Mio. Euro aus. Diese Höhe war ein Erfahrungswert von anderen MVZs. Warum bei uns 3,6 Mio. Euro gefordert wurden, kann ich nicht beurteilen. Nach Rücksprache mit dem Kommunalamt mussten wir unsere Beschlüsse wiederholen, damit die 3,6 Mio. Euro abgedeckt sind. Flexibilität hätte ich mir gewünscht was die Zulassung von Ärzten angeht. Wir haben Anfragen von ärztlichen Psychotherapeuten. Da in diesem Versorgungsgebiet jedoch kein Arztsitz für Psychotherapie frei ist, wurde uns keine Genehmigung in Aussicht gestellt, obwohl bezogen auf die Altersstruktur bei Psychotherapeuten im Planungsgebiet bald Sitze frei werden. Aber so sind eben die Regeln.

Impulse: Ich darf nochmal auf die Inbetriebnahme des MVZ Klettgau zurückkommen. Wie gestaltet sich die Renovierung, Herrichtung und Ausstattung des MVZ, da keine Bestandspraxen übernommen wurden? Wie gehen Sie hier vor?

Topcuogullari: Wie erwähnt, haben wir das Erdgeschoss des Rathauses in Klettgau-Grießen umgebaut. Wir haben optimale Bedingungen geschaffen. Das Rathaus, also somit auch das MVZ, liegt in zentraler Lage mit direkter Anbindung an den ÖPNV. Durch einen Aufzug ist es ohnehin schon barrierefrei gewesen. Da die Verwaltung komplett ins Obergeschoss verlegt wurde, ist eine räumliche und akustische sowie brandschutztechnische Trennung notwendig gewesen.

Alle Handwerker, Planer, Mitarbeiter usw. waren sich der Dringlichkeit und der Wichtigkeit dieses Projektes bewusst. Jeder hat mich Hochdruck daran gearbeitet und zum Gelingen dieses Projektes beigetragen. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an alle die mit- gewirkt haben!

Bei den Umbauarbeiten haben wir auf die Belange der Ärzte Rücksicht genommen, beispielsweise bei der Beleuchtung, den Bodenbelägen usw. Auch bei der Ausstattung sind wir dem Rat der Ärzte gefolgt. Damit schaffen wir Akzeptanz.

Impulse: Wo sehen Sie das kommunale MVZ Klettgau in fünf bis sechs Jahren? Wovon hängt dabei die voraussichtliche Entwicklung besonders ab?

Topcuogullari: Ich rechne sehr damit, dass sich weitere Ärzte bei uns melden werden und wir das MVZ personell und in der Leistungsfähigkeit erweitern können. In 6 Jahren wird das MVZ längst etabliert und regional bekannt sein. Ich hoffe, dass wir noch weitere Fachärzte (z.B. Kinderärzte usw.) für unser MVZ gewinnen können und das Zentrum stets vergrößert wird. (Lesen Sie auch: Die ambulante medizinische Versorgung im Umbruch)

Impulse: Herr Topcuogullari, herzlichen Dank für das Gespräch!

Topcuogullari: Sehr gerne. Ich wünsche Ihnen und den Lesern alles Gute für das Jahr 2024!