Jüngst war in der Lokalpresse von einem Ärzte-Netzwerker vorwurfsvoll zu lesen: „Ich weise schon seit fünf Jahren auf den Ärztemangel hin, aber die Gemeinde […] versteckt sich dahinter, dass der Versorgungsauftrag bei der Kassenärztlichen Vereinigung liegt. Das ist zwar so, aber aktiv hat die Gemeinde nichts getan. Seit fünf Jahren schiebt der Bürgermeister das Problem vor sich her. Es passiert gar nichts.“ Ähnliches und Vergleichbares findet man seit mehreren Jahren in Hunderten anderer Regionalzeitungen wieder. Und immer das Gleiche: Der hier nicht so direkt benannte aber eben doch gemeinte „Sicherstellungsauftrag“ der bundesweit 17 Kassenärztlichen Vereinigungen. Ein Hemmnis um vor Ort in den Kommunen aktiv zu werden. Dabei ist “Sicherstellung“ in diesem Zusammenhang eindeutig missverständlich. (Lesen Sie auch: Wie reagieren Deutschlands Kommunen auf den Ärztemangel)
Wieso das so ist, erklärt die – vom Umfang bereits etwas suspekte und nicht für 12.000 Kommunen in Deutschland kommunizierbare – 68-seitige Ausarbeitung mit 276 Fußnoten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zum Thema „Sicherstellung“ (WD 9 – 3000 – 084/18 vom dazu 12. Dezember 2018).
Dort heißt es in der Vorbemerkung, „dass es sich bei dieser Aufgabe [gemeint ist der „Sicherstellungsauftrag, Anm.] nach § 72 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) im Grundsatz zwar um eine gemeinsame Angelegenheit der Vertragsärzte bzw. der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen handelt, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen nach § 75 Abs. 1 Satz 1 SGB V aber verpflichtet sind, die vertragsärztliche Versorgung in dem in § 73 Abs. 2 SGB V bezeichneten Umfang sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen haben, dass die vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Vor dem Hintergrund dieses den Kassenärztlichen Vereinigungen obliegenden Sicherstellungsauftrags werden sodann die verschiedenen Förder- und Sicherstellungsinstrumente sowie deren Voraussetzungen dargelegt, die der Gesetzgeber den Kassenärztlichen Vereinigungen zur Verfügung gestellt hat, um die Sicherstellung der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zu gewährleisten, zu verbessern oder zu fördern.“
Erstes Fazit: Das hat wohl mit der Sicherstellung einer effektiven hausärztlichen Versorgung, d.h. dem Vorhandensein eines Arztes insbesondere in ländlichen Regionen wohl eher nichts zu tun. Sondern „nur“ damit – sofern ein Arzt ansässig ist – „was“ dieser im weitesten Sinne des Wortes an Behandlungen, Betreuungen, Verordnungen usw. materiell, inhaltlich gem. § 73 Abs. 2 SGB V „sicherzustellen“ hat. Klingt nach dem Leistungsrecht aus dem geltenden Leistungs- und Vertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) vom 18. August 1896. – Davon hatte der zitierte Ärzte-Netzwerker aber nicht gesprochen. Das meint auch kein einziger Bürgermeister, wenn er diesen Begriff irrtümlich verwendet.
In der folgenden Einleitung der Ausarbeitung heißt es dann aber immerhin: „Angesichts der sich abzeichnenden ärztlichen Unterversorgung in strukturschwachen, ländlichen Regionen ist es im Sinne einer bedarfsgerechten und wohnortnahen medizinischen Versorgung eine zentrale gesundheitspolitische Herausforderung, dem räumlichen Missverhältnis der Versorgungskapazitäten entgegenzusteuern. Gesundheitspolitische Akteure auf allen Ebenen – sowohl in der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik als auch in der Selbstverwaltung – haben deshalb vielfältige Maßnahmen ergriffen, um eine angemessene und flächendeckende ambulante vertragsärztliche Versorgung der Bevölkerung in ländlichen Regionen, auch und gerade für die Zukunft, zu gewährleisten. […] Vielmehr beschränken sich die Ausführungen – auftragsgemäß – auf die Frage, welche Rolle und Bedeutung den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Kassenärztlichen Bundesvereinigungen bei der Gewährleistung einer ausreichenden ambulanten vertrags-ärztlichen Versorgung der GKV-Versicherten insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen zukommt.“
Zweites Fazit: Neben den KVen kümmern sich – irgendwie dann doch überraschend, aber doch plausibel – nicht unwesentlich auch (andere) gesundheitspolitische Akteure, einschl. der kommunalen Ebene. Aber die KVen haben eine enorme Rolle und Bedeutung bei der Lösung. – Das klingt hoffnungsvoll.
Was folgt, ernüchtert: „Die Aufgabe der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung ist in den Vorschriften der §§ 72 ff. SGB V als Erster Titel des Zweiten Abschnitts über die Beziehungen der Krankenkassen zu den Ärzten und damit nach den allgemeinen Grundsätzen des Ersten Abschnitts (§§ 69 ff SGB V) unmittelbar zu Beginn des Vierten Kapitels des SGB V betreffend die Beziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern geregelt. […] Der Begriff der Sicherstellung ist als solcher gesetzlich nicht definiert. Allerdings machen die Regelungen der §§ 72 ff. SGB V in Verbindung mit den in §§ 69 ff SGB V niedergelegten allgemeinen Grundsätzen deutlich, dass es bei der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung ihrem Gegenstand nach im Kern um die Gewährleistung und Organisation der ambulanten medizinischen Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch die sie tragenden Personen und Institutionen geht, die in § 73 Abs. 2 SGB V als vertragsärztliche Versorgung ihrem Inhalt nach näher beschrieben wird und das gesamte Tätigwerden der Ärzte für die Krankenkassen umfasst. Aus der gesetzlichen Beschreibung der Anforderungen an die vertragsärztliche Versorgung in § 72 Abs. 2 SGB V lässt sich entnehmen, welche Zielsetzungen die Sicherstellung derselben Genüge zu leisten hat. Nach dieser Bestimmung haben die zur Sicherstellung berufenen Institutionen die vertragsärztliche Versorgung so zu regeln, dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet ist und die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden.“
Drittes Fazit: Tatsächlich „sicherstellen“ hat offensichtlich viele Inhalte. Es geht also nur um die Vertragsbeziehungen zwischen den Vertragspartnern, hier der Gesetzlichen Krankenkassen (auch nicht der PKVen) und den Leistungserbringern. Der Begriff „Sicherstellung“ ist gesetzlich definiert, aber: Die KVen können organisatorisch etwas tun.
Und nun das eigentlich Interessante: „Mit dem Begriff der Sicherstellungsverantwortung ist im vorliegenden Zusammenhang die Frage angesprochen, wer im System der gesetzlichen Krankenversicherung für die Gewährleistung und Organisation der ambulanten medizinischen Versorgung der Versicherten zuständig ist. Es geht mithin darum, wem die Aufgabe der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung, die auch als allgemeiner Sicherstellungsauftrag bezeichnet wird, obliegt.“
Viertes Fazit: Jetzt kann man das Gutachten schon beinahe weglegen („im System der gesetzlichen Krankenversicherung“). Es liefert wohl keinen Wertbeitrag zur Hinterfragung des oben beispielhaft angeführten Diskurses in den vom Hausärztemangel betroffenen Regionen. Der kritisierte Bürgermeister und der Arzt sprechen ja nicht über das „GKV-System“, sondern darüber, dass zu wenig Hausärzte da sind. – Oder kann man doch noch aus der Bundestagsausarbeitung „Honig saugen“?
Zur „Allgemeine Sicherstellungsmaßnahmen der Kassenärztlichen Vereinigungen (§ 105 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V) heißt es hoffnungsvoll: „In Konkretisierung des nach § 75 Abs. 1 SGB V den Kassenärztlichen Vereinigungen obliegenden Sicherstellungsauftrags für die vertragsärztliche Versorgung verpflichtet § 105 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V die Kassenärztlichen Vereinigungen, mit Unterstützung der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen alle geeigneten finanziellen und sonstigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zu gewährleisten, zu verbessern oder zu fördern. Grundlage hierfür sind die Bedarfspläne, die die Kassenärztlichen Vereinigungen im Einvernehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen nach Maßgabe der vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassenen Richtlinien auf Landesebene zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung aufzustellen und jeweils der Entwicklung anzupassen haben (§ 99 SGB V Abs. 1 Satz 1 SGB V). Im Rahmen dieser Pflichtaufgabe ist den Kassenärztlichen Vereinigungen ein sich aus der Komplexität der Versorgungssituation ergebender planungsspezifischer Beurteilungsspielraum zuzugestehen, der sich zum einen darauf bezieht, ob die Versorgungssituation überhaupt Maßnahmen erforderlich macht, und zum anderen darauf, welche Maßnahmen als zur Lösung von Versorgungsproblemen geeignet zu ergreifen sind. Bei der Auswahl sicherstellender Maßnahmen ist die Kassenärztliche Vereinigung nicht begrenzt, da sich weder dem Wortlaut des § 105 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V noch dessen Sinn und Zweck eine Beschränkung auf einzelne Fördermaßnahmen entnehmen lässt. Vielmehr liegt die Auswahl und Ausgestaltung der jeweiligen Maßnahme im – rechtlich gebundenen – pflichtgemäßen Ermessen der Kassenärztlichen Vereinigung, die den Versorgungsstand zu prüfen und festzustellen hat, ob und welcher Förderungsbedarf besteht, um die vertragsärztliche Versorgung zu gewährleisten. In Abhängigkeit vom Ausmaß des Versorgungsdefizits und der verfügbaren Instrumente kann sich das den Kassenärztlichen Vereinigungen eingeräumte Ermessen allerdings erheblich reduzieren. Zu den finanziellen Maßnahmen zwecks Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung gehören etwa Landarztzulagen, Umsatzgarantien zur Besetzung verwaister Vertragsarztsitze, Vergabe zinsloser oder zinsgünstiger Darlehen zur Finanzierung von Praxisneugründungen, Anmietung oder Bau von Ärztehäusern sowie die Subventionierung einer Praxisausstattung. Durch derartige und ähnliche Strukturmaßnahmen können die Kassenärztlichen Vereinigungen finanzielle Mittel für Sicherstellungszwecke verwenden, um gezielt Anreize für Vertragsärzte oder Niederlassungsinteressierte in ländlichen Regionen oder sonstigen strukturschwachen Gebieten zu schaffen.“
Fünftes Fazit: Jetzt kann jeder das mit den Versorgungsgraden usw. einordnen. Das machen die KVen u.a. mit ihren Bedarfsplanungen und Förderprogrammen bereits in allen 17 Fällen, teilweise sicherlich auch ganz hervorragend. Wenigstens wird auch angedeutet, dass das „Ermessen“ der KVen auch Grenzen kennt: Eben, wenn gar keine ausgebildeten Ärzte vorhanden sind – und das ist ja das Grundproblem: Bis 2030 fehlen mindestens 12.000 Hausärzte bundesweit. Heute sind es ja bereits rd. 3.500. – Also jetzt kann man das Gutachten tatsächlich weglegen. Es benennt nämlich nicht, wer für die zu wenig ausgebildeten Hausärzte, verantwortlich ist. Dies ist allerdings eindeutig geregelt: Es sind die 16 Landtage in den 16 Bundesländern im Rahmen ihrer Kultusministerien und niemals die 17 Kassenärztlichen Vereinigungen als sich zunehmend entpuppende Mangelverwalter.
Also zu dem eingangs beispielhaft zitierten Vorwurfs ergibt sich: Der Begriff “Sicherstellung“ ist im Zusammenhang mit der Diskussion „Hausärztemangel auf dem Lande“ tatsächlich eindeutig missverständlich. Dort interessiert zu Recht niemand ein Vertragsverhältnis zwischen Gesetzlichen Krankenkassen und Leistungserbringern, hier Hausärzten. Es interessiert dagegen zurecht, was und wie die Kommune selbst das Problem „Hausärztemangel“ lösen kann. (Lesen Sie auch: Kommunale MVZ – Mögliche Rechtsformen für Kommunen)
Der Begriff „Sicherstellungsauftrag“ der KVen entpuppt sich dabei als „Pfropfen“, der unreflektiert übernommen, das Handeln von zahlreichen Kommunen blockiert. Die sind nämlich tatsächlich nach dem Sozialstaatsprinzip Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz als Bund, Länder und Kommunen, verpflichtet im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten eine funktions- und leistungsfähige Gesundheitsinfrastruktur zu gewährleisten. Letztere müssen daher nolens volens auch eine erreichbare, d.h. wohnortnahe Versorgung mit ärztlichen Leistungen sicherstellen. Dabei können die erwähnten KV-Förderinstrumente genutzt werden. (Lesen Sie auch: Ärztemangel – Der „Ball“ bleibt bei den Kommunen)
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