Österreich Ärztemangel
Ärztemangel in Österreich: Ein Blick in unser Nachbarland
18. Juli 2020
Bayern erstes kommunales MVZ
Bayerns erstes kommunales Medizinisches Versorgungszentrum – Interview
30. August 2020

Wie reagieren Deutschlands Kommunen auf den bundesweiten Ärztemangel?

kommunale MVZ Deutschland

Weniger Ärzte müssen in Zukunft mehr Medizinisches leisten

Der Ärztemangel in Deutschland macht sich bemerkbar: Bis 2030 scheiden etwa die Hälfte der Hausärzte und -ärztinnen (im Folgenden: Ärzte) aus dem Berufsleben aus, aktuell sind bundesweit bereits rd. 3.500 Hausarztsitze (gleichbedeutend mit hausärztlichen Vollzeitstellen) nicht nachbesetzbar. Bis zum Jahr 2030 wird sich diese Zahl auf unglaubliche 12.000 nicht besetzbare Hausarztsitze erhöht haben. Der Rückgang der Nachfolgeärzte für eine Hausarztpraxis bedeutet, dass gerade einmal jede zweite Praxis einen 1:1-Nachfolger findet. Der Ärztemangel betrifft dabei nicht „nur abgehängte, kleine Gemeinden“ – der Mangel erreicht bereits die Kleinstädte. In strukturschwachen Gegenden kann die Nachbesetzungswahrscheinlichkeit einer Hausarztpraxis schnell bei nur noch rd. 10 Prozent liegen. (Lesen Sie auch: Ambulante Medizinische Versorgung in Deutschland im Überblick)

Junge Nachwuchsmediziner der sogenannten Generation Y bzw. Generation Z haben konkrete Vorstellungen von ihrem späteren Berufsalltag. Im Vordergrund stehen dabei flexible Teilzeitangebote, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Stichwort: Work-Life-Balance), das Arbeiten im ärztlichen Team sowie möglichst breite Angebote zur beruflichen Weiterbildung. Das klassische Einzelkämpferdasein, ob auf dem Lande oder in urbaneren Gegenden, ist bei Nachwuchsmedizinern eher unbeliebt und steht, wenn überhaupt, erst in einer späteren beruflichen Phase zur Debatte. In den vergangenen 20 Jahren hat sich das Alter beim Aufbau der eigenen Einzelpraxis um rd. zehn Jahre auf nunmehr 45-48 Jahre nach hinten verschoben.

Das Problem wird sich also nicht von selber lösen. Man muss vor Ort anpacken und die ambulante Versorgung strukturell verändern, um sie so auch den Bedürfnissen der nachfolgenden Ärztegenerationen anzupassen. Dieser Transformation stellen sich daher auch zunehmend Gemeinden und Städte, um ihrer Bevölkerung langfristig eine wohnortnahe ärztliche Grundversorgung bieten zu können.

Der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung

Im Amtsdeutsch nennt es sich „Sicherstellungsauftrag“. Das ist nichts anderes als die Gewährleistung der Kassenärztlichen Vereinigung, dass jeder gesetzlich Versicherte das Recht darauf hat, rund um die Uhr angemessen ärztlich versorgt zu werden. Das Bundesministerium für Gesundheit definierte den Sicherstellungsauftrag 2016 wie folgt:

„Die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen und die Kassen(zahn)ärztliche Bundesvereinigung sind verpflichtet, die vertrags(zahn)ärztliche Versorgung der Versicherten sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Dazu gehört ein den Bedarf deckendes Versorgungsangebot einschließlich einer angemessenen Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten (Notdienst)“.

Die Frage ist nur: Wie soll das Recht noch sichergestellt werden? Die Theorie entfernt sich angesichts des Ärztemangels immer weiter von der Realität: Was bedeutet „angemessen“? Für die Kassenärztliche Vereinigung in Hessen sind 25 Kilometer zum nächsten Hausarzt angemessen. Eine Distanz, die für Rentner oder nicht mobile Menschen oft schwer zu leisten ist. Doch was, wenn es mehr als die besagten 25 Kilometer sind? Denn gerade in ländlichen Gebieten ist dieser Sicherstellungsauftrag immer häufiger gefährdet. Gleichzeit zum Mangel an neu ausgebildeten Medizinern existiert nämlich eine Ungleichverteilung zwischen Stadt und Land. Ganz zu schweigen von der Zahl, die eigentlich als „Normal versorgt“ gilt – demnach müsste nämlich auf 1671 Einwohner jeweils ein Arzt kommen.

Die Kommune als Gesundheitsversorger

Manche Gemeinden und Städte suchten daher schon vor einigen Jahren teilweise mit viel Kreativität, vielen Anreizen und zahlreichen Vergünstigungen nach jungen Medizinern, die in ihre Region kommen wollen. In den vergangenen Jahren hat der Gesetzgeber jedoch einige notwendige Anpassungen vorgenommen.

Seit 2015 besteht daher durch den Gesetzgeber die ausdrückliche Möglichkeit für Kommunen eigene, sogenannte kommunale Medizinische Versorgungszentren (kMVZ) zu gründen und zu betreiben (§ 95 Abs. 1a SGB V). Demnach verpflichtet das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) Bund, Länder und Kommunen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten eine funktions- und leistungsfähige Gesundheitsinfrastruktur zu gewährleisten. Letztere müssen daher auch eine erreichbare, d.h. wohnortnahe Versorgung mit ärztlichen Leistungen sicherstellen. Auch sieht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen die kommunale Verankerung der Gesundheitsinfrastrukturverantwortung als einen wichtigen Baustein zur Stärkung der ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum an.

Bundesweit bereits 18 kommunale Medizinische Versorgungszentren

Im Unterschied zu vielen Erwartungen sind es gerade kleine Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern (n = 10), die kommunale MVZ gründen (darunter sogar vier Kommunen mit weniger als 2.000 Einwohnern), gefolgt von größeren Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern (n = 6). Nur zwei kMVZ befinden sich in Kommunen mit 5-10.000 Einwohnern. Acht von 18 kommunalen MVZ werden dabei in der Rechtsform einer (g)GmbH betrieben. Darunter sind auch zwei überörtliche kommunale MVZ mit mehreren Standorten unter Beteiligung der jeweiligen Landkreise. Lediglich zwei Kommunen wagten bislang das kommunale MVZ als Eigenbetrieb zu führen. Besonders viele kommunale MVZ finden sich in Schleswig-Holstein (8 kMVZ), gefolgt von Hessen (4 kMVZ), Bayern (2 kMVZ) sowie Brandenburg, Niedersachsen, NRW und Rheinland-Pfalz mit jeweils einem kommunalen MVZ. Im Durchschnitt arbeiteten in den 18 kMVZ rd. 3,5 Ärzte und Ärztinnen. Diese Zahl dürfte sich in den Folgejahren bei rund 5-6 Ärzten einpendeln. Vergleichbare Entwicklungen kann man dem privaten MVZ-Markt entnehmen. (Lesen Sie auch: Erstes kommunales MVZ nun auch in Nordrhein-Westfalen eröffnet)

Es ist hierbei anzumerken, dass aufgrund einer anfänglichen Planungs- und Umsetzungsphase von bis zu drei Jahren, die Zahl der sich in Gründung befindlichen kommunalen MVZ deutlich höher liegt. Konservative Schätzungen gehen hier von derzeit rd. 100 kMVZ in Planung aus. Schätzungen von dostal & partner zu Folge wird es im Jahr 2035 rd. 500 kommunale MVZ geben, in ihnen werden dann mehr als 2.000 Ärzte und Ärztinnen in Teil- und Vollzeit praktizieren.

Ein Bild, das Screenshot enthält.

Automatisch generierte Beschreibung

(Anm.: ein kommunales Medizinisches Versorgungszentrum wurde aufgrund besonderer Ausgangsbedingungen bereits 1992 in den Neuen Bundesländern gegründet.)

Ärztliche Leitung und Arztsitze bei einem (kommunalen) MVZ

Medizinische Versorgungszentren sind nach § 95 Abs. 1 Satz 2 SGB V ärztlich geleitete Einrichtungen, in denen Ärzte als Angestellte oder Vertragsärzte tätig sind. (S.891f.)
„Die Notwendigkeit einer ärztlichen Leitung stellt sicher, dass ärztliche Entscheidungen nicht von Nicht-Ärzten beeinflusst werden […] Er [Anm.: der ärztliche Leiter] ist in medizinischen Fragen weisungsfrei“.

„Der ärztliche Leiter muss nach § 95 Abs. 1 Satz 3 SGB V selbst im MVZ tätig sein. Das erfordert zwar keine fachliche Verantwortung für jede einzelne Behandlungsmaßnahme, wohl aber die Verantwortung für die ärztliche Steuerung der Betriebsabläufe und eine Gesamtverantwortung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung“. Der ärztliche Leiter „kann, muss aber nicht in der Geschäftsführung des MVZ tätig sein.“

„Ein Vertragsarzt muss die vertragsärztliche Tätigkeit nach § 19a Abs. 1 Ärzte-Zulassungsverordnung grundsätzlich in Vollzeit ausüben. […] Er kann sie aber durch Erklärung gegenüber dem Zulassungsausschuss auf die Hälfte des Versorgungsauftrages beschränken (§ 19a Abs. 2 Ärzte-ZV). […] [Anm.: Es] reicht nunmehr […] ein Beschäftigungsumfang von zehn Wochenstunden für die Mitgliedschaft in der Kassenärztlichen Vereinigung aus.“

„Der angestellte Arzt verzichtet zugunsten des MVZ auf seine Zulassung. Bei dieser Konstruktion ist allein das MVZ Inhaber der Zulassung“. Bei einem MVZ in teilweise oder voller kommunaler Trägerschaft bedeutet dies, dass der aufgekaufte Arztsitz für den Standort dauerhaft gesichert ist. Er verbleibt beim Medizinischen Versorgungszentrum auch wenn ein angestellter Arzt abwandert oder sich zur Ruhe setzt. Nicht selten unterstützten Kommunen in der Vergangenheit mit Fördergeldern externe Unternehmen beim Kauf von Arztsitzen im Gemeindegebiet. Dabei kam es immer wieder vor, dass nach einer gewissen Sperrzeit der mit Fördergeldern mitfinanzierte Arztsitz in andere Kommunen verlagert wurde. Die Kommune hat das Nachsehen, die Fördergelder sind verbrannt.

Kommunale MVZ sind als Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigungen auch Adressaten von deren Zulassungs- und Sanktionsmechanismen

Kommunale MVZ (kMVZ) müssen ihre Zulassung als Mitglied genauso wie Einzelärzte bei der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung beantragen. „Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben gem. §75 Abs. 2 Satz 2 SGB V die Erfüllung der den Vertragsärzten obliegenden Pflichten zu überwachen und die Vertragsärzte, soweit notwendig, unter Anwendung der in §81 Ab. 5 GB V (Verwarnungen, Verweise, Geldbußen, Ruhen der Zulassung) vorgesehenen Maßnahmen zur Erfüllung dieser Pflichten anzuhalten. Es fragt sich, ob die Kassenärztlichen Vereinigungen diese hoheitlichen Befugnisse auch im Verhältnis zu einem von einer Gemeinde getragenen MVZ geltend machen können.“ (Lesen Sie auch: Zukunftsfeld „Kommunale Medizinische Versorgungszentren“)

„Grundsätzlich nehmen Hoheitsträger ihre Aufgaben selbstständig und eigenverantwortlich […] wahr. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2002 führt jedoch aus, dass Fachgesetze (wie z.B. die sozialrechtlichen Zuständigkeiten der KVen i.S.d. Art. 83ff. GG) auch Verwaltungsakte gegenüber Hoheitsträgern zulassen, wenn sich diese – wie im Falle eines MVZ – wirtschaftlich betätigt. „Wenn eine Gemeinde sich nicht klassisch hoheitlich, sondern wirtschaftlich betätigt, so führt sie keine Gesetze aus, sondern handelt wie ein Privater. Sie bedarf daher auch nicht des Schutzes einer öffentlich-rechtlichen Zuständigkeitsordnung, sondern ist wie alle anderen Marktteilnehmer in formeller wie in materieller Hinsicht an die Gesetze gebunden.“ Für kMVZ gilt insofern umfänglich das Vertragsarztgesetz.

Dabei ist hinsichtlich der Vollstreckung die Rechtsform des kMVZ entscheidend. Wird das kMVZ in Form einer AöR betrieben, ist die KV auf die Amtshilfe der Gemeinde angewiesen. In Bayern werden Formen dieser Art als „Kommunalunternehmen“ bezeichnet. Wie auch im Falle einer GmbH wird in der Praxis bei AöR gegen Sanktionen der Kassenärztlichen Vereinigung – die in der Praxis ohnehin kaum vorkommen – zunächst der Sozialrechtsweg beschritten. „Ein rechtskräftiges Urteil erzeugt dann einen Titel i.S. v. § 131 SGG (Sozialgerichtsgesetz, Anm.), der durch die Festsetzung von Zwangsgeldern auch gegenüber Behörden durchgesetzt werden kann.“ Inwieweit hier die von einigen Autoren und Rechtsgutachtern bevorzugte AöR günstiger ist als eine GmbH mit kommunaler Beteiligung bleibt leider im Dunkeln. Für beide Rechtsformen gelten die gleichen Haftungs- und Sanktionsmechanismen.

Ergänzend zu den oben dargestellten Kernpunkten sei hinzugefügt, dass kommunale Medizinische Versorgunszentren durchaus auch mit Beteiligung von Vertragsärzten und (privaten) Krankenhäusern gegründet werden können. Hier schließen sich die dargestellten Eigen- und Regiebetriebe im Gegensatz zur Gründung als GmbH oder Genossenschaft aus. Die Rechtsform der Genossenschaft ist für Kommunen daher von Vorteil, da im Ernstfall alleine die Genossenschaft mit ihrem Vermögen haftet.

Ein kommunales MVZ ist dabei immer nur als ultima ratio zu sehen: Eben dann, wenn es partout keine privatwirtschaftliche Lösung gibt, sich keine Lösung durch eine solvente, sprich schuldenfreie Kreisklinik anbietet und eine wohnortnahe medizinische Versorgung für große Teile der Bevölkerung einfach unabdingbar ist.

Weitere informative Beiträge zu den Themen moderne medizinische Versorgung und Bewältigung des Ärztemangels finden Sie in unserem Magazin Impulse