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Zukunftsfeld „Kommunale Medizinische Versorgungszentren“

kommunale MVZ

Das bundesweit erste Facharzt-MVZ und das bundesweit erste interkommunale Hausarzt-MVZ gehen an den Start

Das bundesweit erste Facharzt-MVZ in Neunburg vorm Wald (Oberpfalz)

Die Entscheidung des Zulassungsausschusses der Kassenärztlichen Vereinigung zum gegründeten Gesundheitszentrum Ostoberpfalz (MVZ) ist gefallen: In der Stadt Neunburg vorm Wald mit über 8.200 Einwohnern im Landkreis Schwandorf informierte Bürgermeister Martin Birner den Stadtrat, dass die Anträge der Stadt Neunburg auf Zulassung eines kommunalen Medizinischen Versorgungszentrums (kMVZ) und Genehmigung zur Beschäftigung von zwei Ärzten von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern bewilligt wurden. Damit geht das „Gesundheitszentrum Ostoberpfalz“, so der Marktauftritt mit Sitz in Neunburg, wie geplant am 1. Juli 2020 an den Start.

Der Neunburger Stadtrat hatte mit seinem einstimmigen Grundsatzbeschluss vom 24. Oktober 2019 dafür die Basis geschaffen. Ziel der Stadt ist es, die wohnortnahe medizinische Versorgung der Bevölkerung insbesondere in der Stadt Neunburg langfristig zu sichern und nachhaltig zu stärken. Am 25. November 2019 hatte der Stadtrat die Gründung des Gesundheitszentrums beschlossen. Das erste bundesdeutsche kommunale Facharzt-MVZ wird in der Liegenschaft des ehemaligen Kreiskrankenhauses betrieben und hat mit einer Poliklinik nichts gemein.

Das Team des MVZ setzt sich aus einem Internisten und Chirurgen, zehn medizinischen Fachangestellten und zwei weiteren Beschäftigten zusammen. Ein von externer Seite durchgerechneter und einzuhaltender Businessplan sichert die Wirtschaftlichkeit ab. Der ärztliche Leiter des MVZ, bietet als Facharzt für Innere Medizin Herz-Kreislaufdiagnostik und Behandlung von Magen-Darmerkrankungen an. Sein medizinisches Angebot konzentriert sich auf Diabetes mellitus und Naturheilverfahren. Ein zuziehender Chirurg aus der Gegend deckt das chirurgische Spektrum und die notfallmedizinische Versorgung ab. Die kaufmännischen Aufgaben erledigt die Stadtverwaltung.

Vorausgegangen war der gescheiterte Versuch einer Einzelärztin den chirurgischen Arztsitz in Neunburg vorm Wald in die 25 Kilometer entfernte Große Kreisstadt Schwandorf (rd. 28.800 Einwohner) abzuziehen. Um genau das zu verhindern und die kommunale Verantwortung für die medizinische Versorgung verantwortungsvoll wahrzunehmen, wurden von der Stadt beim Zulassungsausschuss drei Bewerbungen mit unterschiedlichen Lösungsansätzen eingereicht: Öffentlich hatte Bürgermeister Birner immer nur von einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) gesprochen, das die Stadt selbst im ehemaligen Krankenhaus aufbauen würde und das den Facharztsitz von dem Orthopäden, der Ende des Jahres in den Ruhestand geht, gerne übernommen würde.

Hinter den Rathauskulissen waren aber auch zwei weitere Strategien ausgearbeitet worden: Auch Dr. Richard Wagner, Stadtrat und Neunburgs Internist, hätte bei einer Zusage den Chirurgie-Sitz gekauft und einen Chirurgen bei sich angestellt. Am Ende entschied sich der Zulassungsausschuss allerdings für die dritte Bewerbung eines bisherigen Not- und Facharztes für Chirurgie. Er war zuletzt in der Grenzland MVZ GmbH (Sana-Kliniken) in Furth im Wald (Landkreis Cham) tätig. Er übernahm den erhaltenen Facharztsitz zum 1. Januar 2020 und brachte ihn jetzt in das kMVZ der Stadt Neunburg vorm Wald ein. (Lesen Sie auch: Die Landarztquote allein wird es nicht richten)

Das bundesweit erste interkommunale MVZ in Freiensteinau und Grebenhain (Hessen)

Nicht zuletzt angespornt durch den hessischen Landkreis Darmstadt-Dieburg (rd. 298.000 Einwohner), der mittlerweile mit seiner kMVZ GmbH ebenfalls Facharztsitze aufkauft sowie dem ersten hessischen kMVZ in Schwarzenborn (rd. 1.200 Einwohner), wurde Anfang Juni 2020 der Vertrag des ersten interkommunalen medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) für den Bereich der Gemeinden Freiensteinau (rd. 3.100 Einwohner) und Grebenhain (rd. 4.600 Einwohner) unterzeichnet. Bei der Menage à trois ist der Vogelsbergkreis (rd. 106.000 Einwohner) der dritte Mitbegründer. Ab Januar 2021 werden die ersten Stellen besetzt sein und das MVZ an den Start gehen. (Lesen Sie auch: Gründung kommunaler Medizinischer Gesundheitszentren – Interview)

Das Projekt hat für den Vogelsbergkreis Pilotcharakter: Weitere Landkreiskommunen (zehn Städte und neun Gemeinden) sind als Partner erwünscht. Es ist das bisher erste kommunale MVZ, bei dem ein deutscher Landkreis und zwei Gemeinden als Gesellschafter interkommunal zusammenarbeiten. Damit soll die medizinische Versorgung auf lange Sicht gewährleistet werden. Das Modellprojekt ist der vorläufige Höhepunkt der Arbeit, der im Jahr 2012 eingerichteten Fachstelle „Medizinische Versorgung des Vogelsbergkreises“. Für das erste interkommunale MVZ in der Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH (gGmbH) arbeiteten die beiden Gemeinden sowie der Vogelsbergkreis zusammen, um das medizinische Angebot auf dem Land weiterhin sicherzustellen.

„Die schwierige Entwicklung, die die medizinische Versorgung im Kreisgebiet genommen hat, war abzusehen. Der Vogelsbergkreis steuert deshalb gegen: Schon früh wurden erste Gespräche geführt, um Städte und Gemeinden, Kassenärztliche Vereinigung sowie Medizinisches Fachpersonal an einen Tisch zu bringen“, sagt Erster Kreisbeigeordneter Dr. Jens Mischak. „Die Idee, im Rahmen der Planung der medizinischen Versorgung, auf ein interkommunales MVZ zu setzen, zeichnete sich als ein sehr guter Weg ab“, führt Dr. Mischak weiter aus. „Neben der langfristigen Sicherung der medizinischen Versorgung gebe es noch weitere Vorteile. […] Gerade für junge Mediziner ist das Modell interessant, da sie am Beginn ihres beruflichen Weges nicht mit den Risiken, die mit einer eigenen Praxis verbunden sind, zurechtkommen müssen. […] Geregelte Arbeitszeiten, Planungssicherheit und mehr Flexibilität halten Einzug in den Alltag. Die Administration und Praxisorganisation übernimmt das Praxismanagement-Personal“, sagt der Erste Kreisbeigeordnete. Eine professionelle Arbeitsteilung, die der gesundheitlichen Versorgung zugutekomme.

Das Modell wurde schon früh den Landkreiskommunen vorgestellt, um abzuklären, wo es Interesse für eine Zusammenarbeit in Form eines gemeinsamen interkommunalen MVZ gibt. Im Entscheidungsprozess zum Vorhaben, das auch zum Ziel hat, Mediziner in die Region zu holen, kristallisierten sich die beiden Gemeinden Grebenhain und Freiensteinau heraus. „Für uns bedeutet die Unterzeichnung des Gesellschaftsvertrages ein wichtiger Baustein zur Sicherung der gesundheitlichen Versorgung. Besonders für Freiensteinau, da wir seit mehreren Jahren intensiv nach einer Lösung suchen, um Medizinerinnen und Medizinern ein Anstellungsverhältnis anzubieten. Auch die Zusammenarbeit zwischen den drei Kommunen hat Vorbildcharakter und wird ein Zukunftsmodell sein“, sagt Sascha Spielberger, Bürgermeister der Gemeinde Freiensteinau.

„Mit der Vertragsunterzeichnung endet ein langer und intensiver Vorbereitungsprozess für eine MVZ-Trägergesellschaft. Gleichzeitig wird der Grundstein für eine zukunftsweisende ärztliche Versorgung in Grebenhain sowie Freiensteinau, aber auch den gesamten Vogelsbergkreis gelegt“, sagt Sebastian Stang, Bürgermeister der Gemeinde Grebenhain. „Wir in Grebenhain freuen uns, dass wir mit Freiensteinau die ersten Kommunen im Kreis sein dürfen, die durch die MVZ Trägergesellschaft attraktive Anstellungsangebote machen können, um so die ärztliche Versorgung auf Dauer sicherzustellen. Damit wird ein wesentlicher Grundstein für die zukünftige Daseinsvorsorge und der Grundversorgung in den Gemeinden gelegt, der zukünftig weitere Möglichkeiten eröffnet“, sagte Stang. (Lesen Sie auch: Gutachten veröffentlicht: Freie Fahrt für kommunale Medizinische Versorgungszentren)

Fazit

Die beiden Projekte für die Errichtung von kommunalen MVZ (kMVZ) sind Mutmacher auf dem Weg zu den von uns bis zum Jahre 2030 eingeschätzten min. 500 kMVZ-Standorten. Sie zeigen auf, welche vielfältigen Facetten die jeweiligen Lösungen haben können. Die Gründungsimpulse sind aber immer die gleichen. Zuerst einmal die Umsetzung der Erkenntnis, dass die Nachrücker-Generation keine Einzelpraxen mehr übernehmen will und deshalb auf Angestelltenangebote für Ärzte in Mehrbehandler-Praxen (zwei und mehr Ärzte unter einem juristischen Dach) zu setzen ist. (Potentielle) Abgeberärzte – auch solche bei denen selbiges erst in zehn Jahren ansteht – sind einzubeziehen. Die jungen Ärzte wollen im ärztlichen Team arbeiten (und weiterlernen).

Daraus entstehen zukunftssichere Kerne mit attraktiven Andockmöglichkeiten für Jung-Mediziner. Um diese geht es letztendlich. Ein kMVZ ist dabei immer nur als ultima ratio zu sehen: Eben dann, wenn es partout keine privatwirtschaftliche Lösung gibt, sich keine Lösung durch eine solvente, sprich schuldenfreie Kreisklinik anbietet und eine wohnortnahe medizinische Versorgung für große Teile der Bevölkerung (im geschilderten oberpfälzischen Falle über 30.000 Einwohner) einfach unabdingbar ist.

Quelle: Mittelbayerische Mai/2020; Osthessen Zeitung Juni/2020

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