Gründung kommunaler MVZ
Kommunale Möglichkeiten zur Lösung des Ärztemangels auf dem Land
8. September 2019
Ellwangens Oberbürgermeister über kommunale Lösungsansätze hinsichtlich des Landarztmangels – Interview
6. Oktober 2019

Gutachten veröffentlicht: Freie Fahrt für kommunale Medizinische Versorgungszentren

Gutachten kommunale medizinische Versorgungszentren
Hausärztemangel: Weniger Ärzte müssen in Zukunft mehr Medizinisches leisten

Der Ärztemangel in Deutschland macht sich bemerkbar: Bis 2030 scheiden etwa die Hälfte der Hausärzte aus dem Berufsleben aus. Aktuell sind bereits rd. 2.700 Hausarztsitze unbesetzbar. Der Rückgang der Nachfolgeärzte für eine Hausarztpraxis bedeutet, dass bundesweit gerade einmal jede zweite Praxis einen 1:1-Nachfolger findet. Geht der Trend „Hin zur Stadt und nicht auf das Land“ unverändert weiter, heißt dies für Landgemeinden: Es fehlen dort 70 bis 80 % Nachrücker. Anders ausgedrückt: nur in jeder dritten bis fünften Gemeinde kann eine Hausarztpraxis aufrechterhalten werden. In strukturschwachen Gegenden sind es noch deutlich weniger. Der G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) spricht hier in seiner Empfehlung zur Änderung der Bedarfsplanungsrichtlinie bereits von einer Mindesterreichbarkeit einer hausärztlichen Praxis innerhalb von 20 PKW-Fahrzeitminuten. Vor dem Hintergrund einer immer älter werdenden Bevölkerung sowie vor der Diskussion einer Einschränkung des Individualverkehrs zu Gunsten des öffentlichen Nachverkehrs, eine Entwicklung die aufhorchen lässt.

Größere Praxiseinheiten als Lösung zur Bewältigung des Landarztmangels

Bis in die 1990er Jahre hinein war die Einzelpraxis die absolut dominierende Praxisform. Die Zahl der Gemeinschaftspraxen stieg nur langsam. Mit Beginn des neuen Jahrtausends wurde die Idee einer zentrenbasierten und fachübergreifenden ambulanten Versorgung in der Bundesrepublik aufgegriffen. Bis zur Wiedervereinigung waren in der DDR sogenannte Polikliniken die überwiegende Organisationsform von niedergelassenen Fachärzten. 2004 hielt diese Organisationsform schließlich in Form der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) Einzug in das Sozialgesetzbuch. 2019 zählen wir über 2.500 MVZ. Mit der Möglichkeit ihrer Gründung stieg die Zahl der Medizinischen Versorgungszentren seit 2004 rasant. Mittlerweile sind sie fester Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung. Derzeit versorgen mehr als 16.000 Ärzte in Medizinischen Versorgungszentren ihre Patienten.

Zu den bereits über 20 existierenden kommunalen Medizinischen Versorgungszentren (kMVZ) der hausärztlichen Versorgung werden in Bälde weitere in zahlreichen Bundesländern hinzukommen. So sind nach derzeitigem Wissensstand in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bayern in naher Zukunft weitere Eröffnungen hausärztlicher MVZ in (teil-)kommunaler Trägerschaft zu erwarten. Als Hinweis sei erwähnt, dass hierzu nicht die fachärztlichen Medizinischen Versorgungszentren von Landkreiskliniken, die meistens als „Einweiser“ zwangsweise „rote“ Zahlen schreiben, zählen.

Gutachten unterstützt Gründung kommunaler Medizinischer Versorgungszentren

Ein weiterer Impuls wird dabei dem nunmehr endlich veröffentlichten Gutachten „Kommunen als Träger Medizinischer Versorgungszentren“ zuzuweisen sein. Das Gutachten wurde Anfang 2018 vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege bei zwei Regensburger Hochschulprofessoren in Auftrag gegeben und liegt dem Ministerium bereits seit Juli 2018 vor. Das auf 85 Seiten verkürzte Gutachten ist nunmehr unter „Meine Themen“ – „Für Kommunen“ aufrufbar unter: www.stmgp.bayern.de. (Lesen Sie auch: Bayerisches Gutachten zu kommunalen Medizinischen Versorgungszentren stützt den Paradigmen-Wechsel beim Lösen des Hausärztemangels)

Dieser nunmehrigen Veröffentlichung war bereits ein im November 2018 veröffentlichter umfangreicher Beitrag der beiden Experten in der Fachzeitschrift „Die Öffentliche Verwaltung“ (DÖV) vorausgegangen. In einem Sonderdruck wurde dieser bereits bei einem Großteil der über 12.000 bundesdeutschen Kommunen zur Kenntnis gebracht.

Art. 20 Abs. 1 GG und kommunale Ermächtigung durch § 95 Abs. 1a Satz 1 SGB V

Seit 2015 besteht durch den Gesetzgeber die ausdrückliche Möglichkeit für Kommunen eigene, sogenannte kommunale Medizinische Versorgungszentren (kMVZ) zu gründen und zu betreiben (§ 95 Abs. 1a SGB V). Hier setzt das 2017/2018 von den beiden nahmhaften Regensburger Universitätsprofessoren Prof. Dr. Thorsten Kingreen (Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Gesundheitsrecht) und Prof. Dr. Jürgen Kühling (Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Immoblienrecht, Infrastrukturrecht und Informationsrecht) in einem Gutachten an.

Als Einstieg wählen die beiden Experten die seit Jahren zu erkennende Kommunalisierung der Gesundheit. In Form eines „back to the basics“ verweisen sie auf das Grundgesetz: Demnach verpflichtet das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) Bund, Länder und Kommunen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten eine funktions- und leistungsfähige Gesundheitsinfrastruktur zu gewährleisten. Letztere müssen daher auch eine erreichbare, d.h. wohnortnahe Versorgung mit ärztlichen Leistungen sicherstellen. Auch ist eine (kommunale) Antwort auf überdurchschnittlich älter werdende Bürger sowie Mediziner im ländlichen Raum notwendig (Bericht der Enquete-Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern“, 30.1.2018). Auch sieht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen die kommunale Verankerung der Gesundheitsinfrastrukturverantwortung als einen wichtigen Baustein zur Stärkung der ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum an.

Zudem erfordern die „hausgemachten Probleme“ des dualen Krankenversicherungssystems, so die beiden Professoren, „das aufgrund unterschiedlicher Vergütungen, Anreize zur Niederlassung in wohlhabenden urbanen und damit tendenziell eher überversorgten Regionen setzt, in den denen viele Privatversicherte leben“, eine Antwort. Auch der 7. Altenbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom November 2016 fordert eine „verörtlichte Sozialpolitik“ in den Bereichen, die bislang durch die Sozialversicherung dominiert werden, insbesondere auch im Gesundheitswesen.

Der Bund ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für das Vertragsarztrecht zuständig. Damit fällt namentlich das gesamte vertragsärztliche Zulassungsrecht in den §§ 95ff. SGB V, also auch das Zulassungsrecht der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), umfassend unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG: „Von dieser Kompetenz hat der Bund auch abschließend Gebrauch gemacht, sodass nach Art. 72 Abs. 1 GG insoweit kein Rahmen für landesrechtliche Regelungen verbleibt“, so die Experten unmissverständlich. Der eigens 2015 eingefügte § 95 Abs. 1a Satz 1 SGB V ermöglicht den Kommunen unbestreitbar solche kommunale Medizinische Versorgungszentren zu errichten. (Lesen Sie auch: Landarztmangel – Gutachten unterstützt Gründung kommunaler MVZ)

Die Kommune als Gesundheitsversorger ist absolutes Neuland

Solche Vorhaben, die unbestrittener Maßen Neuland betreten – darauf weisen auch die beiden Gutachter hin – brauchen Zeit und durchaus Nervenstärke. Die Materie ist äußerst komplex und Bedenkenträger jedweder Art treten rasch auf den Plan. Bei einem solchen neuen Thema zur Unzeit floskelartig auf die Hinzuziehung von tradierten Berufen – neben Institutionen wie z.B. der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen – Steuerberatern, Rechtsanwälten und Finanzberatern zu verweisen, gehört dazu.

Tatsächlich werden immer wieder Herangehensweisen, z.B. durch die lokalen Presseberichterstattungen bekannt, die von einer sogenannten „Entscheidungsphase“ berichten, in der die Frage „Ja“ oder „Nein“ zu einem kommunalen Medizinischen Versorgungszentrum – ohne tatsächliche Marktkenntnis – am Anfang steht. Das ist aber ebenfalls „Mehltau“ und lähmt jedwede weitere zielgerichtete Initiative vor Ort: Man biegt schlichtweg falsch ab.

Tatsache ist nämlich: Mit „Ja/Nein“ stellt sich die Frage weder zu diesem verfrühten Zeitpunkt noch später. Zum einen sind intensive wissensbasierte Abklärungsgespräche mit möglichen Akteuren des regionalen (nicht nur örtlichen) Hausärztemarktes zu führen und in Richtung Lösungsmöglichkeiten zu bewerten. Zum anderen bleibt der Kommune – wenn belastbar kein, natürlich vorzuziehender, privatwirtschaftlicher Akteur zur Verfügung steht, als ultima ratio gar nichts anderes übrig, als alleine oder mit einer anderen Kommune zusammen zu handeln und eine solche Gründung selbst (z.B. mit Management-Partnern à la Schleswig-Holstein) in Angriff zu nehmen.

Was an „taktischen“ Winkelzügen alles dazwischen liegen mag, sei nur am Rande erwähnt: Auch ein „Flügelschlagen“ stimuliert im regionalen Umfeld allemal und kann dann doch erfolgreich zu einer privatwirtschaftlichen Lösung führen (Fallbeispiel Bad Kötzting im Bayerischen Wald).

Bedauerlicherweise wird in dem etwas weltfremd anmutenden 16-seitigen „Handlungsleitfaden“ vom Juli 2018 für die Gründung eines MVZ durch die Kommune der beiden erwähnten Regensburger Professoren der vorherrschende Mangel an zur Verfügung stehenden Medizinern nicht berücksichtigt. (Seite 8, Nrn. 7 und 8, Quelle: www.stmgp.bayern.de). Die Vorgehensweise erinnert eher an das kommunale Beschaffungsverhalten der 70er bzw. 80er Jahre, das einen Mangel des Angebots nicht kannte. Um diesen geht es aber aktuell.

Da ist die Realität des Hausärztemangels auf dem Lande – trotz exzellenter rechtlicher Darlegungen pro kommunalem Medizinischen Versorgungszentrum (kMVZ) – noch nicht angekommen. Es geht darum, die Anforderungen der Generation Y an ihr Arbeitsumfeld zu erfüllen und ein attraktives Angestelltenverhältnis für Ärzte anbieten zu können. Hierzu „Bereitwillige“ zu gewinnen, ist die tatsächliche Herkulesaufgabe. Kurzum: Die im Thema stehenden Bürgermeister vor Ort sind mit ihren Erfahrungen längst weiter. Darauf ist aufzubauen und zu den Dutzenden kommunalen MVZ werden bundesweit rasch weitere kommunale MVZ folgen. Betrachtet man einen möglichen Zeithorizont bis 2025, wird es bundesweit schätzungsweise bereits mehr als 250 kommunaler MVZ geben.

(Lesen Sie auch: Niedersachsens erstes kommunales Medizinisches Versorgungszentrum geht an den Start)

Hier geht es zur Studie: Lösung des Ärztemangels: Zahlen, Daten & Fakten. Eine Grundlagendarstellung.