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Ärztemangel: Der „Ball“ bleibt bei den Kommunen

Ärztemangel: Der „Ball“ bleibt bei den Kommunen

Bekanntermaßen verpflichtet das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz den Bund, die Länder und die Kommunen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten eine funktions- und leistungsfähige Gesundheitsinfrastruktur zu gewährleisten. Letztere müssen daher nolens volens auch eine erreichbare, d.h. wohnortnahe Versorgung mit ärztlichen Leistungen sicherstellen. Dazu brauchen sie natürlich – neben dem immer wieder angeführten Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen – volle Unterstützung durch den Gesetzgeber, also die „Politik“.

In diesem Zusammenhang lässt eine Meldung von Anfang September 2020 aufhorchen: Demnach hatte die Spitze der größten Bundestagsfraktion auf ihrer Klausurtagung im Berliner Westhafen eine entsprechende Forderung in ihr Fünf-Punkte-Papier zur Sicherung des Wohlstands in Deutschland aufgenommen. In dem Papier heißt es: „Wenn man sich die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, neue Arbeitszeitmodelle und die alternde Gesellschaft vor Augen führt, wird klar, dass mehr Ärzte ausgebildet werden müssen.“ Und fährt dazu fort: „Zudem müssen wir bereits jetzt (!) Vorsorge treffen für 2030 (!), wenn die Ärztegeneration der Babyboomer in den Ruhestand geht.“ Dazu forderte die Fraktion eine Erhöhung der derzeit rd. 10.000 Studienplätze um 5.000 Studienplätze. Dies sei zwar „ambitioniert, aber machbar – zumindest dann, wenn alle Bundesländer mitziehen“. Der bereits in vielen Kommunen seit einigen Jahren bestehende und für Patienten spürbare Hausärztemangel, Patientenstopps in erster Linie bei Fachärzten oder immer länger werdende Anfahrtswege zum Spezialisten blieben gänzlich unberücksichtigt. (Quelle: https://www.cducsu.de/themen/familie-frauen-arbeit-gesundheit-und-soziales/medizin-studienplaetze-aufstocken).

Mehr als 10.000 unbesetzte Hausarztsitze bis 2030

Bei einer Gesamtausbildung von Medizinern von bis zu zehn Jahren hat man damit lösungsseitig also bestenfalls die Mitte der 2030er Jahre im Blick. Bis 2030 setzen sich jedoch etwa die Hälfte aller in Deutschland niedergelassenen Hausärzte zur Ruhe. U.a. mangels der zur Verfügung gestellten Studienplätze im Bereich Humanmedizin in den Jahren nach 1990 kann nur knapp die Hälfte dieser Hausarztsitze nachbesetzt werden. D.h. es fehlen nach den allgemein zugänglichen Berechnungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aus dem Jahre 2016 bis 2030 deutlich mehr als 10.000 Hausärzte im Bundesgebiet. (Lesen Sie auch: Ambulante Medizinische Versorgung in Deutschland im Überblick)

Hausärztemangel Demografie
Altersverteilung der bayerischen Ärzte nach Versorgungsebenen (Stand 08/2016)

Dieser KBV-Vorausberechnung folgend, waren es Ende 2019 bundesweit bereits 3.280 unbesetzbare Hausarztsitze, bei Fachärzten waren es hingegen 1.933. Die sich jährlich steigernde Hausarztlücke liegt demzufolge bereits bei über 400 zusätzlich fehlenden Hausärzten in der ambulanten Versorgung pro Jahr. In absehbarer Zeit gehen damit rd. 1,5 Hausärzte pro Tag der ambulanten Grundversorgung verloren. Die erkannten Baby-Boomer-Effekte nehmen dabei bereits im Jetzt von Jahr zu Jahr zu: Nach 2027/2028 dürfte sich hinsichtlich der ambulanten wohnortnahen Grundversorgung die Zurruhesetzungswelle spürbar auswirken.

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Welche Kapazitätseinsparungseffekte Telemedizin, Video-Sprechstunden, effizientere Mehrbehandlerpraxen, delegative Praxisstrukturen, bei denen Nicht-Mediziner mehr ärztliche Arbeiten übernehmen, einbringen werden, wird man wohl erst in einigen Jahren belastbar wissen. Wissenschaftliche Untersuchungen fehlen hierzu bezeichnenderweise noch. Die IT-Branchenvertreter sprechen, trotz der während der aktuellen medizinischen Krise zunehmenden Video-Sprechstunden, nur vage Hoffnungen aus.

Dass sich die Umsetzung in Deutschland als schwierig erweist, zeigt sich auch in der Berufsordnung der Landesärztekammern. Diese untersagt Ferndiagnosen zwischen Arzt und Patienten. Eine Ausnahme ist Baden-Württemberg. Dort wurde diese Regelung für erste Pilotprojekte gelockert. Die Forderung vieler Mediziner lautet: Eine Anpassung der Berufsordnung, sowie die Modernisierung des Fernbehandlungsverbotes.

Deutschland liegt im Ländervergleich teilweise weit zurück. Als führend gelten unter anderem England, die Schweiz sowie Skandinavien, wobei Kosteneinsparungen und eine verbesserte Versorgung nachweisbar belegt sind. In Ländern wie Schweden oder der Schweiz ist der Einsatz von Telemedizin schon heute Teil der erfolgreichen gesundheitlichen Grundversorgung.

Erneut belegt eine Studie, dass Deutschland bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen erheblichen Nachholbedarf hat und viele Potenziale für Qualität und Effizienz der Versorgung nicht nutzt. In einem internationalen Vergleich der Bertelsmann Stiftung zu Digitalisierungsstrategien und -fortschritten liegt Deutschland unter 17 Ländern nur auf Rang 16 vor Schlusslicht Polen.

Spitzenplätze nehmen nach der von der Forschungsgesellschaft empirica aus Bonn durchgeführten Untersuchung „#SmartHealthSystems“ Estland, Kanada, Dänemark, Israel und Spanien ein. In diesen Ländern seien digitale Technologien bereits Alltag in Praxen und Klinik, Rezepte würden digital übermittelt und wichtige Gesundheitsdaten der Patienten in elektronischen Patientenakten gespeichert, heißt es. Nach der Untersuchung können in Estland und Dänemark alle Bürger beispielsweise ihre Untersuchungsergebnisse, Medikationspläne und Impfdaten online einsehen und Berechtigungen für Zugriffe von Ärzten und anderen Gesundheitsberufen selbst verwalten. In Israel und Kanada sind Ferndiagnosen und Fernbehandlungen per Video in der Versorgung bereits selbstverständlich.

Von der Schwemme zum Mangel

Was war dieser heutigen Mangelsituation im Wesentlichen vorausgegangen? – Von etwa 1982 bis 2002 erlebten die Mediziner in Deutschland rund 20 Jahre lang eine ungünstige Arbeitsmarktsituation. In den 1980er Jahren, als in Deutschland vor einer zunehmenden Zahl von approbierten Medizinern gegenüber einer nicht angemessenen Anzahl von zu besetzenden Stellen im medizinischen Bereich gewarnt wurde, tauchte auch der Begriff der Ärzteschwemme auf. Heute, 30 Jahre danach absehbar und zu erwarten, die Schwemme der Praxisabgeber-Ärzte. Bis 2002 gab es noch bei den damaligen Arbeitsämtern gemeldete arbeitslose Ärzte. Eine heute fast unvorstellbare Situation. Die Politik in den Ländern hatte bereits einige Zeit davor begonnen, das Angebot an Studienplätzen im Bereich Human-Medizin von rd. 17.400 auf unter 11.000 abzubauen. Dazu wurden mittlerweile u.a. die Ausbildungszeiten länger, der Frauenanteil höher, die im Fraktionspapier skizzierten Lebensziele ausgeprägter und die Abwanderungen ins lukrativere Ausland höher. (Lesen Sie auch: Blick zurück: Ärzteschwemme damals, Ärztemangel heute)

Was bleibt für die betroffenen Kommunen bei einem solchen Szenario zu tun „übrig“? – Die Notwendigkeit, sich um die Lösung des Hausärztemangels angesichts der skizzierten „Großwetterlage“ selbst kümmern zu müssen, ist unübersehbar. Der „Ball“ bleibt im eigenen Feld liegen. Eine Lösung von der „Politik“ im Jetzt ist nicht zu erwarten. (Lesen Sie auch: Wie reagieren Deutschlands Kommunen auf den Ärztemangel)

Weitere informative Beiträge zu den Themen moderne medizinische Versorgung und Bewältigung des Ärztemangels finden Sie in unserem Magazin Impulse