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Effizienterer Umgang mit Ressourcen des Gesundheitssystems durch Kopfpauschalen

Capitation Kopfpauschale

Capitation Kopfpauschale

Gesundheitsökonomen haben sich für einen „fundamentalen Paradigmenwechsel“ bei der Finanzierung medizinischer Leistungen ausgesprochen. Sie befürworten die Einführung regionaler Gesundheitsbudgets auf der Grundlage von Pauschalen je Versichertem.

Diese Pauschale wird als sogenannte Capitation bezeichnet. Es handelt sich dabei um ein pauschales Vergütungssystem für Gesundheitsleistungen von Kliniken oder Ärzten für einen bestimmten Zeitraum. Das in Ländern wie der Schweiz, den USA, Großbritannien, Peru und Spanien bereits angewandte Modell belohnt die Qualität der medizinischen Betreuung und vor allem präventive Maßnahmen. Das Ziel dieses Modells ist ein effizienteres und leistungsstärkeres ärztliches Versorgungssystem.

Kopfpauschalen – Ein Modell mit Vorgeschichte

Bereits 2003 fiel in der Rürup-Kommission zur Optimierung der Finanzierung des Gesundheitssystems der Begriff der Kopfpauschale bzw. Kopfprämie. Diskutiert wurde ein einheitlicher Pauschalbetrag für jeden Versicherten unabhängig vom Gehalt. Die Umverteilung zwischen Arm und Reich sowie Kinderlosen und Familien würde in einem solchen Modell über Steuern laufen. Damals wurde geschätzt, dass das notwendige Umverteilungsvolumen in Deutschland bei 25 Milliarden Euro liegen würde.

In der damaligen Diskussion wurde neben den Vorteilen für Arbeitgeber – sinken der Lohnnebenkosten bzw. Einfrieren derselben auf einem gleichbleibenden und damit kalkulierbaren Niveau – die Nachteile für die Arbeitnehmer hervorgehoben. Diese würden die steigenden Krankenversicherungskosten quasi vorfinanzieren und erst nachträglich über die Lohn- und Einkommenssteuer zurückbekommen.

Im Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP im Jahr 2009 wurde die Kopfpauschale in „einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträgen“ umbenannt, jedoch inhaltlich beibehalten. Gleichzeitig war der Arbeitgeberbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung seit dem Start des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 bereits bei sieben Prozent festgeschrieben.

Mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz, das in wesentlichen Teilen am 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist, wurden die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung weiterentwickelt. Der allgemeine Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung wurde von 15,5 Prozent auf 14,6 Prozent abgesenkt. Jede Krankenkasse kann darüber hinaus einen kassenindividuellen, einkommensabhängigen Zusatzbeitrag erheben. Hiermit war das Ziel eines gleichbleibenden Arbeitgeberanteils erreicht.

Capitation – Fallpauschalen unter neuem Blickwinkel

Die nunmehr neu entstandene Diskussion um eine Kopfpauschale hat wenig mit der damaligen einseitigen Konzentration auf den Finanzierungsaspekt der Gesundheitskosten zu tun. Vielmehr geht es bei den regionalen Fallpauschalen (Capitation) darum, Anreize für eine vernetztere und stärker auf die Gesunderhaltung ausgerichtete Gesundheitsversorgung zu schaffen.

Bei herkömmlichen Vergütungssystemen, wie z.B. in Deutschland, erhalten Erbringer von medizinischen Leistungen ein Honorar für verordnete Arzneimittel oder einzelne Leistungen. Durch Capitation, d.h. durch Vergütungspauschalen, erhält jeder medizinische Leistungserbringer für eine gewisse Periode (z.B. ein Jahr) eine Pro-Kopf-Pauschale je Versichertem oder je Patient im definierten Einzugsbereich. Die Pauschale kann daher leicht mit einer Wartungspauschale verglichen werden. Der Anreiz dahinter: Je gesünder der Patient bleibt, desto mehr Gewinn verbleibt von der Pauschale. Belohnt werden also gesunde Patienten.

In der Schweiz haben Studien belegt, dass Capitation einen effizienteren Umgang mit den Ressourcen des Gesundheitswesens zur Folge hat. Zugleich führt dieses Vergütungsmodell zu einer verbesserten Kooperation und einem intensiveren Informationsaustausch zwischen medizinischen Leistungserbringern der stationären und ambulanten Gesundheitssektoren.

Regionale Budgets fördern koordinierte Versorgung

Für die Einführung regionaler Gesundheitsbudgets haben sich am 20. Februar 2020 in Berlin Gesundheitsökonomen der Technischen Hochschule Rosenheim und der Universität Bayreuth ausgesprochen. Dabei sollen die Leistungserbringer eine pauschale Vergütung pro Kopf erhalten, unabhängig von auftretenden Krankheitsfällen. In einer Studie im Auftrag der Stiftung Münch wird aufgezeigt, dass Capitationmodelle Sektorengrenzen überwinden, die Ambulantisierung der Versorgung vorantreiben, die Steuerung der Patientenversorgung verbessern und zu einer spürbaren Kostenreduktion führen können. Für die Studie untersuchten die Wissenschaftler Kopfpauschalenmodelle in Spanien, der Schweiz, den USA und Peru. Man habe Länder ausgewählt, von denen man besonders gut lernen könne. Zwar könne keines der Modelle als Blaupause für Deutschland dienen. Es zeichneten sich aber Vorteile ab, die man auf deutsche Verhältnisse übertragen könne. (Lesen Sie auch: Das Zusammenwachsen des stationären und ambulanten Sektors – Interview)

Sparen ohne Qualitätsverlust

In Spanien sei es zum Beispiel gelungen, innerhalb weniger Jahre signifikante Einsparungen zu realisieren, ohne dass die Qualität der Versorgung beeinträchtigt worden sei, erklärten die Autoren. In Peru seien durch die Capitationmodelle Wartezeiten reduziert und die Patientenzufriedenheit erhöht worden. Auch in den USA seien diese Modelle wieder auf dem Vormarsch. Im Gegensatz zu Spanien und Peru werde dort aber nicht die gesamte Bevölkerung einer Region dem Modell zugeordnet, sondern nur ausgewählte Versicherte.

Einzig in der Schweiz, dem Mutterland von Managed Care in Europa, spielten Capitationmodelle kaum noch eine Rolle. Dabei sind sie den Gesundheitsökonomen zufolge effizienter als andere Modelle. Die Autoren der Studie vermuten, dass der Grund für deren Niedergang in der Schweiz unter anderem darin liegt, dass die Modelle für Leistungserbringer und Versicherte restriktiv wirkten und die Anreize durch höhere Honorare oder niedrigere Versicherungsprämien für Ärzte und Patienten nicht ausreichten. Unbestreitbar ist, dass durch ein Capitationmodell die Wahlfreiheit der Versicherten in Bezug auf den zu behandelnden Arzt in gewissem Maße eingeschränkt wird. In Zeiten des Ärztemangels im ambulanten hausärztlichen Bereich, von Patientenaufnahmestopp und wachsender Wartezeiten für grundversorgende Fachärzte von teilweise bis zu einem Jahr, ist der Begriff Wahlfreiheit allerdings sowieso schon nahezu theoretisch. Patienten orientieren sich zunehmend an freien Kapazitäten.

Gleichzeitig müssten in solchen Modellen Vorkehrungen zur Qualitätssicherung definiert werden. Denn ein Kopfpauschalensystem setzt starke Anreize zum Kostensparen.

Prävention soll sich lohnen

Capitationmodelle schafften aber auch positive Anreize. So lohne es sich, Prävention und eine koordinierte Versorgung zu fördern. Außerdem hätten die Leistungserbringer, die eine Mitverantwortung für das regionale Budget trügen, mehr Gestaltungsfreiheit. Unabdingbar für das Gelingen sei allerdings eine funktionierende digitale Infrastruktur, die zum Beispiel über eine elektronische Patientenakte die Kommunikation der Gesundheitsberufe über Sektorengrenzen hinweg sicherstelle.

Als Grund für die Notwendigkeit eines „fundamentalen Paradigmenwechsels“ bei der Finanzierung medizinischer Leistungen nannten die Autoren der Studie den steigenden Druck auf das Gesundheitssystem. Aufgrund der demografischen Entwicklung steige die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, während es zugleich an Ärzten und Pflegekräften mangele und zahlreiche Krankenhäuser sich bereits heute in finanzieller Schieflage befänden. „Wir werden an den Punkt kommen, an dem Versorgung nicht mehr funktioniert“, warnte Studienleiter Schmid. Damit steige der Druck, neue Wege zu gehen. Es erhöhe aber auch die Bereitschaft der Politik zuzuhören.

„Die Studie zeigt, dass Capitationmodelle eine gute Alternative sein können, um Gesundheitsversorgung effizienter zu gestalten, ohne dass dabei die Versorgungsqualität leidet“, erklärte Prof. Dr. Augurzky, Vorstandvorsitzender der Stiftung Münch, welche die Studie Anfang 2019 in Auftrag gegeben hatte. Jetzt sei Pioniergeist gefordert, neue Dinge auszuprobieren, statt nur bestehende Systeme in kleinen Schritten hier und da ein wenig zu verändern.

Augurzky betonte zugleich, die Regionalbudgets müssten stationäre und ambulante Leistungen abdecken, damit ein Anreiz geschaffen werde, Patienten, bei denen es möglich sei, auch ambulant zu behandeln. Zurzeit verhindere das Vergütungssystem, dass die Ambulantisierung der Medizin vorangehe. Dazu komme, dass die ambulante Versorgung in ländlichen Regionen schwieriger werde. Deshalb habe die Stiftung die Studie zu einer grundlegenden Finanzierungsreform des Gesundheitswesens Anfang 2019 in Auftrag gegeben. Es sei allerdings nicht realistisch anzunehmen, dass man das deutsche Gesundheitssystem mit einem Schlag verändern könne.

Best-Practice Beispiel aus Deutschland

Einzelne bestehende Ansätze zeigen jedoch, dass eine sektorenübergreifende Vernetzung positive Effekte in alle Richtungen hat. So vernetzt z.B. die Gesundes Kinzigtal gGmbH seit 2005 Krankenkassen, ambulante und stationäre medizinische Leistungsanbieter und sonstige Gesundheitsanbieter. Mit den Gesetzlichen Krankenkassen wurden gesonderte Verträge ausgehandelt, welche die Qualität der Betreuung und Behandlung durch Vernetzung erhöhen und gleichzeitig deutliche Kosteneffekte haben. (Lesen Sie auch: Gründung kommunaler Medizinischer Gesundheitszentren – Interview)

Bei Gesundes Kinzigtal hat die Gesunderhaltung der Versicherten einen hohen Stellenwert und wird honoriert. Gesundes Kinzigtal erhält nur dann Geld von den Krankenkassen, wenn die medizinische Versorgung mindestens genauso gut oder besser ist und gleichzeitig die Kosten geringer sind als bei von Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand her vergleichbaren Versicherten im Bundesdurchschnitt. Beides gelingt nachweisbar. Mitglieder von Gesundes Kinzigtal sind gesünder und leiden weniger an chronischen Erkrankungen. Unnötige, für den Patienten belastende Krankenhauseinweisungen werden verhindert. Arzneimittel werden entsprechend der Leitlinien verordnet. Den so erzielten Gesundheitsgewinn investiert Gesundes Kinzigtal wieder in die Entwicklung neuer Angebote und präventiver Maßnahmen.

Nach Ansicht des GKV-Spitzenverbandes lohne es sich, insbesondere in prekären Versorgungsregionen über solche neuen Modelle ambulant-stationärer Kooperation nachzudenken. Dabei könnten auch Capitationelemente eine Rolle spielen, erklärte eine Sprecherin. Der Verband und seine Mitgliedskassen stünden aber erst am Anfang einer solchen Diskussion. Denn Capitationansätze wären derzeit mit erheblichen Umsetzungsschwierigkeiten verbunden, weil es in Deutschland keine einheitliche Regionsabgrenzung gebe. Krankenhauseinzugsgebiete, Kassenzuständigkeiten und auch die kassenärztliche Bedarfsplanung folgten ganz unterschiedlichen Regionsabgrenzungen.

Keine Lust auf radikalen Wandel

Zudem scheint die Lust auf radikale Lösungen wenig ausgeprägt. So forderte die von Union und SPD eingesetzte wissenschaftliche Honorarkommission im Januar zwar Reformen sowohl für das vertrags- als auch für das privatärztliche Honorarsystem. Grundsätzlich sprach sie sich aber dafür aus, am Nebeneinander der Gebührenordnung für Ärzte und dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab festzuhalten.

Auch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Sektorenübergreifende Versorgung“ schlägt in ihrem Fortschrittsbericht vom Januar 2020 keine grundlegenden Änderungen vor, sondern dreht an einzelnen Stellschrauben. So soll beispielsweise zur Verbesserung der Patientenversorgung ein gemeinsamer fachärztlicher Versorgungsbereich festgelegt werden, der künftig sektorenübergreifend organisiert und einheitlich vergütet wird.

Hier geht es zur Studie: Lösung des Ärztemangels: Zahlen, Daten & Fakten. Eine Grundlagendarstellung.