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Gesundheitskioske: Die beitragsfinanzierten „Tafeln“ des Gesundheitswesens?

Gesundheitskiosk

Ausgangssituation und Impulse 

Seit vielen Jahren ist bekannt, dass der nunmehr verstärkt zunehmende „Hausärztemangel auf dem Lande“ sich nicht nur auf die betroffenen ländlichen Regionen beschränkt, sondern auch ein zunehmender Fakt in den sozialschwachen Stadtteilen der etwa 150 größeren Städte ist. Durch die Flüchtlingskrisen der letzten Jahrzehnte, insbesondere jener von 2015, hat sich dieser Trend verstärkt.

Nicht von ungefähr konnte der Deutschlandfunk 2017 über den ersten Gesundheitskiosk, der in Hamburg-Billstedt recht spektakulär berichten. Schließlich standen 6,3 Mio. Euro aus dem sogen. Innovationsfonds zur Verfügung. Dieser Fonds war 2015 Teil des „Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Die Hamburger Erfinder hatten sich dabei auch tatsächlich auf die ursprüngliche architektonische Bedeutung des aus dem Türkischen stammenden Begriffes „Köšk“ besonnen und so etwa wie „ein rundes oder viereckiges, auf Säulen ruhendes, feststehendes oder angebaute Gartenzelt“ (Brockhaus) in offener Form errichtet. Mittlerweile dürften es bald ein Dutzend vergleichbarer Anlaufstellen in einkommensschwachen Stadtvierteln wie z.B. auch in Aachen und Essen (Ruhr) sein. (Lesen Sie auch: Hausärztemangel – Prognose bis 2035)

Konzept, Zielsetzung und Angebot

Die Idee der zentralen Anlaufstelle entstand 2015 im Rahmen der Analyse der gesundheitlichen Versorgungssituation in Hamburg-Billstedt und Hamburg-Horn. Ausgangspunkt für das Projekt war eine um zehn Jahre niedrigere Lebenserwartung der Menschen, die in diesen beiden Stadtteilen im Hamburger Osten wohnten, im Vergleich zu Stadtteilen wie Blankenese (ÄrzteZeitung vom 28. Februar 2022). Allein im ersten Jahr wurden mehr als 3.000 Beratungsgespräche absolviert.

Die damals befragten Ärzte und Mitarbeiter aus sozialen Einrichtungen äußerten den Wunsch, für die Menschen im Stadtteil eine niedrigschwellige Anlaufstelle zu schaffen, die den medizinischen Sektor mit den Angeboten im sozialen Bereich verknüpft. So entstand, inspiriert von dem finnischen Modell der sich seit 2009 entwickelnden „Terveyskioski, ein Konzept für den Gesundheitskiosk mit medizinisch geschultem und mehrsprachigem Personal. Das finnische Gesundheitswesen liegt allerdings im Gegensatz zum deutschen Bismarck-System nahezu ausschließlich in staatlicher Hand, die Gesundheitsdienste für die Bevölkerung werden aus Steuergeldern finanziert: Tragende Säulen des Systems sind die Gesundheitszentren. Dort werden die Gesundheitskioske als Einheiten derselben durch die Gemeinden betrieben. 

In dieser in Deutschland bislang nahezu einmaligen Einrichtung wird ein Umfeld erzeugt, in dem die Menschen selbst für ihre Gesundheit aktiv werden können. Die Gesellschafter der Gesundheit für Billstedt/Horn UG (haftungsbeschränkt) sind das Ärztenetz Billstedt/Horn e.V. (60%), der Gesundheitskiosk e.V. (30%), die SKH Stadtteil-Klinik-Hamburg GmbH (5%) sowie der NAV-Virchow-Bund – Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e.V. (5%) (Gesundheit für Billstedt/Horn UG).

Mit seinen gesundheitsfördernden und aktivierenden Angeboten zielt der Gesundheitskiosk darauf ab,

  • den Gesundheitsstatus der Bevölkerung zu verbessern und den Anteil der Chronifizierungen zu verringern,
  • die Gesundheitskompetenz sowie Eigenverantwortung der Bevölkerung zu stärken,
  • die Patientenzufriedenheit, -erfahrung sowie -zentrierung zu erhöhen,
  • Fehlinformationen und lange Suchbewegungen nach Erstinformationen zu vermeiden,
  • die Versorgungsdefizite im ambulanten Bereich zu minimieren, vorhandene Ressourcen zielorientiert einzusetzen und
  • die wohnortnahe Versorgung zu stärken (PKV-Institut Mai 2022).

Mit diesem Ansatz entspricht der Gesundheitskiosk ganz den Forderungen des Sachverständigenrates, der einen niedrigschwelligen Zugang zu den Leistungen des Gesundheitswesens als entscheidend für ein bedarfsgerechtes System vor allem in strukturschwachen Regionen und vulnerablen Bevölkerungsgruppen erachtet. 

Das Angebot des Gesundheitskiosks in Essen-Katernberg (Träger: Gesundheit für Essen gGmbH) will deshalb ab Herbst 2022 folgende Dienstleistungen anbieten:

  • Familiengesundheit: Schwangerschaftsberatung, Vorsorgekontrolle, Ernährung, Motorik, Unterstützung bei der Beantragung von Hilfs- und Heilmittelbedarf, Sportangebote für Kinder.
  • Prävention: Beratung, Schulungen und Kurse zu Ernährung, Bewegung, Hygiene.
  • Lotsenfunktion & Vermittlung: Vermittlung zu Haus- und Fachärzten, Vermittlung an Selbsthilfegruppen, Vermittlung in öffentliche Sozial- und Beratungsstrukturen, Vermittlung in Hilfseinrichtungen für alleinerziehende Mütter.
  • Psychosoziale Beratung: Spezielle Angebote für traumatisierte Geflüchtete, Alleinerziehende.
  • Versorgungspfade für chronische und psychosoziale Erkrankungen.
  • Mobiles und dezentrales Angebot: aufsuchende Beratung, vor allem für Familien und Kindern mit Migrationshintergrund.
  • Senioren, Pflege- und Angehörigenberatung. 

Empfehlungen und Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses

Die Ergebnisse des obigen Projekts mit dem Titel „INVEST Billstedt/Horn – Hamburg Billstedt/Horn als Prototyp für eine integrierte gesundheitliche Vollversorgung in deprivierten großstädtischen Regionen”, aus welchem der Gesundheitskiosk hervorgegangen ist, zeigen das mögliche Potenzial des Gesundheitskiosk-Ansatzes auf, die Gesundheitsversorgung in sozial benachteiligten Stadtteilen und Kommunen zu ergänzen (Hamburg Center for Health Economics). 

Aus diesem Grund hat auch sich der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) dafür ausgesprochen, die Ergebnisse aus der neuen Versorgungsform in die Regelversorgung – d.h. Übernahme in den GKV-Leistungskatalog – zu übernehmen. In der Erklärung des G-BA  heißt es dazu: „Daher empfiehlt der Innovationsausschuss eine Überführung von Ansätzen der neuen Versorgungsform in die Regelversorgung und leitet die Projektergebnisse beispielsweise an die Gesundheits- und Sozialministerien der Länder weiter. Die Ergebnisse erhält auch das Bundesministerium für Gesundheit, damit die Erkenntnisse bei der Umsetzung der Absichtserklärung aus dem Koalitionsvertrag, niederschwellige Beratungsangebote in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen zu errichten, berücksichtigt werden können.” (Pressemitteilung vom 16. Februar 2022).

Vereinbarung im Koalitionsvertrag

Das so befürwortete Konzept hatte auch in einer Vereinbarung im Koalitionsvertrag 2021-2025 vom November 2021 ihren Niederschlag gefunden: „Durch den Ausbau multiprofessioneller, integrierter Gesundheits- und Notfallzentren stellen wir eine wohnortnahe, bedarfsgerechte, ambulante und kurzstationäre Versorgung sicher und fördern diese durch spezifische Vergütungsstrukturen. Zudem erhöhen wir die Attraktivität von bevölkerungsbezogenen Versorgungsverträgen (Gesundheitsregionen) und weiten den gesetzlichen Spielraum für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern aus, um innovative Versorgungsformen zu stärken. In besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen (5 Prozent) errichten wir niedrigschwellige Beratungsangebote (z.B. Gesundheitskioske) für Behandlung und Prävention. Im ländlichen Raum bauen wir Angebote durch Gemeindeschwestern und Gesundheitslotsen aus“ (Seite 66).

Konkrete Angaben, wer in den Kiosken arbeiten soll, wie viele solcher Einrichtungen es geben soll, wie viel dies kosten und wie die Finanzierung gegebenenfalls aufgeteilt werden soll, gab es zunächst nicht. Doch deutlich wurde in den Regierungskreisen, dass die Gesundheitskioske eine umfangreiche Neuerung werden sollen. Nach Angaben der in Hamburg beteiligten AOK Rheinland/Hamburg wird den Menschen etwa in Hamburg „barrierefrei, in vielen Sprachen und auf Augenhöhe“ Gesundheitswissen vermittelt und Orientierung in der Versorgung vor Ort gegeben: „Verbessert würden in Hamburg so die Lebens- und Gesundheitschancen von Menschen, die es aufgrund ihrer Lebensumstände schwieriger haben, von den Angeboten des Gesundheits- und Sozialsystems zu profitieren.“ (AOK Bundesverband vom 7. Juli 2022).