Primärversorgungszentren, PORT, Gesundheitskiosk
Fachkräfte- und Ärztemangel: neuartige Versorgungsmodelle im Überblick
31. Juli 2022
Kommunales MVZ wirtschaftliche Tragfähigkeit
Kommunale MVZ – Zuschussbetriebe?
17. September 2022

Jeder zweite Klinikstandort vor dem Aus. Wie die Transformation der stationären Versorgung gelingen kann

Krankenhaus Schließungen

Hintergrund

Mehr als jedes zweite Krankenhaus in Deutschland sollte nach Ansicht der Bertelsmann-Stiftung geschlossen werden, damit die Versorgung der Patienten verbessert werden kann. 2020 existierten im Bundesgebiet rd. 1.900 Krankenhäuser, durch die vorgeschlagenen Reformpläne sollten am Ende weniger als 600 größere und bessere Kliniken erhalten bleiben, heißt es in einer 2019 veröffentlichten Untersuchung. Die verbliebenen Krankenhäuser könnten dann mehr Fachpersonal und eine bessere Ausstattung erhalten, so das Fazit der Studie.

Spahns Nachfolger im Gesundheitsressort hatte sich bereits 2019 für einen Umbau der deutschen Krankenhauslandschaft ausgesprochen. Auf Twitter schrieb Karl Lauterbach: „Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollten. Dann hätten wir in anderen Kliniken genug Personal, geringere Kosten, bessere Qualität, und nicht so viel Überflüssiges. Länder und Städte blockieren.“

„Nur Kliniken mit größeren Fachabteilungen und mehr Patienten haben genügend Er­fahrung für eine sichere Behandlung“, betonen die Autoren der Studie. Viele Kompli­kationen und Todesfälle ließen sich durch eine Bündelung von Ärzten und Pflegeper­sonal sowie Geräten in weniger Krankenhäusern vermeiden. Kleine Kliniken verfügten dagegen häufig nicht über die nötige Ausstattung und Erfahrung, um lebensbedroh­li­che Notfälle wie einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall angemessen behandeln zu können. Vor allem die Qualität der Notfallversorgung und von planbaren Operationen lasse sich so verbessern. Auch der Mangel an Pflegekräften könne so gemindert werden. 

Tatsächlich verringert sich das Sterberisiko in Kliniken mit größerer Fallzahl. So ermittelten Forscher anhand der Daten von 13 Millionen Klinikpatienten, dass in Häusern mit den meisten Patienten im Schnitt 26 Prozent weniger Todesfälle auftraten als in denen mit den geringsten Fallzahlen. Bei Herzinfarkt lag der Unterschied sogar bei 31 Prozent. Statistisch signifikant waren solche Zusammenhänge bei 19 von 25 untersuchten Indikationen. (Lesen Sie auch: Hausärztemangel – Prognose bis 2035)

Die Situation in Deutschland ist einzigartig

Die Verringerung der Zahl der Krankenhäuser wird in Deutschland seit längerem diskutiert. Im EU-Ländervergleich hat Deutschland vergleichsweise viele Krankenhausstandorte. Fast nirgendwo sonst in der Welt werden pro Einwohner so viele Menschen stationär behandelt wie hierzulande. 19,5 Millionen Fälle sind es im Jahr, Tendenz steigend. In Deutschland gibt es auch 65 Prozent mehr Klinikbetten pro Einwohner als im EU-Durchschnitt.

Und mit der Zahl ihrer sogenannten Bettentage liegen die Deutschen sogar um 70 Prozent über dem EU-Schnitt. Das führe „zu der paradoxen Situation, dass es in Deutschland mehr Klinikpersonal pro Einwohner gibt als in anderen Ländern, pro Patient aber weniger“, heißt es in der Bertelsmann-Studie.

Und die vielen Häuser wollen zu tun haben. Aufgrund von Überkapazitäten und betriebswirtschaftlichen Zwängen werden der Expertise zufolge viele Patienten stationär versorgt, bei denen das gar nicht nötig sei. Fünf Millionen Patienten könnten genauso gut ambulant behandelt oder operiert werden. Das entspräche der Fallzahl von 500 mittelgroßen Krankenhäusern, also mehr als einem Viertel der Gesamtkapazität aller Kliniken. Angesichts von Patientenaufnahme-Stopps in Haus- und Facharztpraxen stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Umstand nicht an einer ausgedünnten fachärztlichen Versorgung in ländlichen Gegenden liegt.

Was schlagen die Experten vor?

Die finanzielle Lage vieler Krankenhäuser in Deutschland ist prekär. Nach jüngsten Zahlen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) hat jede dritte Klinik 2019 rote Zahlen geschrieben. 

Die Autoren der Bertelsmann-Studie schlagen einen zweistufigen Aufbau einer neuen Krankenhausstruktur vor. Neben Versorgungskrankenhäusern mit durchschnittlich gut 600 Betten soll es etwa 50 Universitätskliniken und andere Maximalversorger mit im Schnitt 1.300 Betten geben. Aktuell hat ein Drittel der Krankenhäuser weniger als 100 Betten. Die Durchschnittsgröße der Kliniken liege bei unter 300 Betten.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) warf Bertelsmann vor, die Stiftung propagiere die Zerstörung von sozi­a­ler Infrastruktur in einem „geradezu abenteuerlichen Ausmaß, ohne die medizinische Versorgung zu verbessern“. „Das ist das exakte Gegenteil dessen, was die Kommis­sion ‚Gleichwertige Lebensverhältnisse‘ für die ländlichen Räume ge­fordert hat“, sagte DKG-Präsident Gerald Gaß. Er betonte, das zentrale Qualitäts­merkmal sei der flächendeckende Zugang zu medizinischer Versorgung.

Medizinische Grundversorgung in ländlichen Gebieten in Gefahr

Darüber hinaus lassen die Autoren der Studie völlig außer Acht, dass die ärztlich-ambulante Versorgung in ländlichen Gegenden die kommenden Jahre stark unter Nachwuchsproblemen bei Haus- und Fachärzten leiden wird. Mancherorts ist dies bereits heute bittere Realität. So kam die Robert-Bosch-Stiftung in einer kürzlich veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass im Jahr 2035 ein Drittel aller deutschen Landkreise hausärztlich unterversorgt oder drohend unterversorgt sein wird. „Eine starke Einschränkung der Krankenhausstandorte, ist nur möglich, wenn man die gesamte medizinische Versorgungsrealität einbezieht“, so Adrian Dostal, Geschäftsführer der bundesweiten Kommunalberatungsagentur dostal & partner. 

 „Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz) verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten eine funktions- und leistungsfähige Gesundheitsinfrastruktur zu gewährleisten, darunter ist auch eine wohnortnahe Versorgung zu verstehen“, so Dostal weiter. „Viele der Kliniken, die den Experten der Bertelsmann Stiftung zu Folge geschlossen werden sollen, befinden sich in eben diesen Regionen. Mit ihnen verschwindet dann der letzte medizinische Hotspot in den betroffenen Gebieten.“ Und weiter: „Es muss davon ausgegangen werden, dass den Autoren die Situation im ambulanten Sektor nicht in ihrer Dramatik bekannt ist, andernfalls ist ihr Ruf nach massiven Krankenhausschließungen nicht nachvollziehbar.“

Keine undifferenzierte Schließungspolitik

Auch der Präsident der Bundes­ärzte­kammer (BÄK), Klaus Reinhardt, bezeichnete die For­derungen der Studienautoren als „mehr als befremdlich“. Allerdings könne es in Ballungsgebieten mit erhöhter Krankenhausdichte durchaus sinnvoll sein, dass Ärzte und Pflegepersonal in größeren Strukturen Patienten be­han­delten. Dadurch könnten Abläufe vereinfacht und die zunehmende Arbeitsverdich­tung gemildert werden. Reinhardt warnte aber vor einer undifferenzierten Schließungs­po­litik.

„Gerade im ländlichen Raum müssen wir die flächendeckende Versorgung der Patien­ten sicherstellen. Deshalb müssen wir mehr als bisher die sektorübergreifende Ver­sorgung gemeinsam mit den niedergelassenen Ärzten ausbauen“, so Reinhardt.

„Wer auch immer mit welchen Ideen den Krankenhaussektor verändern will, muss dem grundgesetzlichen Auftrag der Daseinsvorsorge, der Gleichheit der Lebensver­hält­nisse und dem Feuerwehrwehr-Prinzip der Krankenhäuser im Katastrophenfall gerecht werden“, mahnte er. Vor allem aber müsse man Optionen diskutieren, wie man der zunehmenden Behandlungsbedürftigkeit in der Gesellschaft bei gleichzeiti­gem Fach­kräftemangel begegnen wolle. „Auch wenn wir die Zahl der Krankenhäuser reduzieren, reduzieren wir dadurch ja nicht die Zahl der Behandlungsfälle“, sagte Reinhardt.

Anzahl der Krankenhausaufenthalte sinkt

Eine Studie des RWI (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung e.V. in Essen) zeigt in einer kürzlich veröffentlichten Pressemitteilung auf, welche Effekte Krankenhausschließungen auf die Bevölkerung in der Umgebung haben.

Die Auswirkungen der Schließung von 18 Kliniken in den Jahren zwischen 2015 und 2018 hat das RWI analysiert. Hieraus geht hervor, dass sich nicht nur die Anfahrtszeit zum nächstgelegenen Krankenhaus für die Patienten steigt, sondern sich auch die Rate der Klinikaufenthalte verringerte. Sieben der Krankenhäuser waren dabei vor ihrer Aufgabe in öffentlicher Trägerschaft und neun in privater gemeinnütziger Hand. Bei den zwei weiteren handelte es sich um private, gewinnorientierte Häuser.

Keine Aussagen zu „dringenden Fällen“ möglich

Die Daten lassen jedoch keine Rückschlüsse darauf zu, ob die wegfallenden Krankenhausaufenthalte auch dringende Fälle betreffen. In diesem Fall könnten die Schließungen ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für die betreffenden Patienten bedeuten. Sollten die wegfallenden Krankenhausaufenthalte hauptsächlich Patienten mit leichten Erkrankungen betreffen, die stattdessen ambulant behandelt werden können, würde dies für eine effizientere Gesundheitsversorgung mit tendenziell besserer Versorgungsqualität infolge der Schließungen sprechen.

Fazit

Angesichts des Personalmangels im Gesundheitswesen und der alternden Bevölkerung ist nach RKI-Einschätzung (Gesundheitsökonomin Anne Mensen) die Zusammenlegung von Kliniken in vielen Fällen eine wichtige Maßnahme, um die Effizienz zu erhöhen und eine personelle Mindestbesetzung zu gewährleisten. Zudem kann die Schließung kleiner Kliniken zu einer besseren Behandlungsqualität führen, da die Patienten stattdessen in Kliniken mit stärker spezialisiertem Personal behandelt werden können. „Damit auch für ältere und weniger mobile Menschen eine angemessene Versorgung gewährleistet ist, müssten Krankenhausschließungen jedoch sorgfältig geplant werden und mit Konzepten zur Ausweitung der ambulanten Versorgung einhergehen.“

Umso wichtiger ist es, dass die medizinisch-ärztliche Versorgung mittels Primärversorgungszentren (PVZ) in ländlichen Regionen sichergestellt wird. Hier geben erste Modellprojekte richtungsweisende Impulse. Solche Primärversorgungszentren ersetzen einen ehemaligen Krankenhausstandort und vernetzen alle Anbieter aus dem Bereich der Daseinsvorsorge und des Sozialwesens. An derartige PVZ können u.a. Medizinische Versorgungszentren in kommunaler Trägerschaft bzw. privatwirtschaftliche Mehrbehandlerpraxen, Therapeuten sowie weitere Anbieter der Daseinsvorsorge angeschlossen werden. Die Konzeptionierung und der Aufbau derlei Primärversorgungszentren und -netzwerke wird in den kommenden Jahren massiv an Bedeutung gewinnen.  (Lesen Sie auch: Der Landrat von Darmstadt-Dieburg über die Gründung Medizinischer Versorgungszentren in kommunaler Trägerschaft sowie die Teilnahme am PORT-Modellprojekt)

Quellen: Pressemeldung des RWI vom 28. Juli 2022 ; Bertelsmann-Stiftung, Studie 2019