Ärztemangel Baden-Württemberg
Serie: Wie reagieren Deutschlands Bundesländer auf den Ärztemangel (Teil II: Baden-Württemberg)
20. Februar 2022
100 kommunale MVZ
100 – so viele kommunale MVZ soll es 2030 in Deutschland geben
4. Juni 2022

Serie: Wie reagieren Deutschlands Bundesländer auf den Ärztemangel (Teil III: Nordrhein-Westfalen)

Nordrhein-Westfalen Ärztemangel

Der Ärztemangel in Nordrhein-Westfalen im Überblick

Im Jahr 2021 waren von den ungefähr 11.000 in Nordrhein-Westfalen niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzten (im Folgenden: Hausärzte bzw. Ärzte) mehr als die Hälfte bereits über 55 Jahre alt. Knapp 40 Prozent bereits über 60 Jahre. Landesregierung und Verbände prognostizieren daher, dass bis zum Jahr 2030 in etlichen Gemeinden und Städten die Zahl der niedergelassenen Hausärzte auf weniger als die Hälfte des Bedarfs sinken wird. Auch die fachärztliche Versorgung ist hiervon betroffen, allen voran Internisten und Kinderärzte. Bereits Stand Oktober 2021 waren in Nordrhein-Westfalen knapp 400 Hausarztsitze aufgrund Nachwuchsmangels nicht nachbesetzbar. (Lesen Sie auch: Wie reagieren Deutschlands Bundesländer auf den Ärztemangel – Teil II: Baden-Württemberg)

Nordrhein-Westfalen nimmt hinsichtlich der ärztlichen Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) eine Sonderstellung in Deutschland ein. Das Bundesland wird nämlich von zwei KVen „beplant“: Die KV Nordrhein (KVNO, ca. 18.500 Mitglieder) und die KV Westfalen-Lippe (KVWL, ca. 13.000 Mitglieder).

Stadt-Land-Gefälle

In den ländlichen Gebieten Nordrhein-Westfalens kommen laut des Statistischen Landesamts fast achtmal so viele Menschen auf eine Facharztpraxis wie in den städtischen Gebieten – im Kreis Paderborn sind es sogar zwanzigmal so viele Menschen. Auch bei den Hausärzten kommen laut Statistik in ländlichen Gebieten doppelt so viele Menschen auf eine Praxis wie in den städtischen Gebieten. So konstatierte der Landkreistag in Nordrhein-Westfalen, dass hinsichtlich einer wohnortnahen ärztlichen Versorgung keine gleichwertigen Lebensverhältnisse in NRW existieren und, dass der ländliche Raum einen Anspruch darauf habe, medizinisch genauso gut versorgt zu werden wie die Ballungszentren.

Das Statistische Bundesamt verwies bereits 2018 auf die besonders schlechte hausärztliche Versorgung im Planungsgebiet der KVWL. Mit gerade einmal 59,9 Hausärzten auf 100.000 Einwohnern ist keine Region Deutschlands so dünn besetzt wie Westfalen-Lippe. Bundesweit gab es Ende 2018 am wenigsten Hausärzte in Herford mit 50,4. Zum Vergleich: Im Bundesgebiet liegt das Verhältnis bei rd. 100 Hausärzten auf 100.000 Einwohner.

Bei der gesamten Arztdichte ist Nordrhein-Westfalen im bundesweiten Vergleich nur Mittelmaß: Während die Kassenärzte-Region Nordrhein (KVNO) mit 225,1 auf 100.000 Einwohnern immerhin auf Platz 4 von 17 liegt, wird Westfalen-Lippe mit 191 auf 100.000 Einwohnern nur von Brandenburg unterboten.

Auch in Gesundheitsämtern fehlen Ärzte

Wie der Hausärztemangel ist auch der Personalmangel in deutschen Gesundheitsämtern ein bundesweites Problem. Wie viele Stellen für Ärzte in den NRW-Gesundheitsämtern unbesetzt sind, ist zwar unklar, da dazu keine Daten erhoben werden. Jedoch ergab eine kürzlich veröffentlichte Umfrage des WDR-Magazins Westpol, dass in zwei Drittel der NRW-Gesundheitsämter Ärzte fehlen. 

Wie reagieren die betroffenen Akteure in Nordrhein-Westfalen – Chronologie 

2017: Die Nordrhein-Westfälische Landesregierung entscheidet sich für die Gründung einer zusätzlichen medizinischen Fakultät in Bielefeld (Medizinische Fakultät Ostwestfalen-Lippe). Eines der Hauptziele der Fakultät ist es, die Versorgung im Bereich Gesundheit auf dem Land zu optimieren. Zu diesem Zweck sehen die Verantwortlichen eine solide Vernetzung mit Lehrkrankenhäusern und Landarztpraxen vor. Das Konzept des Studiengangs ist dabei ein anderes als im sonst üblichen Regelstudium. Als Teilnehmer des Modellstudiengangs Humanmedizin erhalten Studierende bereits ab dem ersten Semester direkten Einblick in die praktischen Aspekte des Medizinerberufs. Erfahrungen sammeln sie nicht nur in den drei Häusern Klinikum Lippe, Klinikum Bielefeld und Evangelisches Klinikum Bethel, sondern auch in den Praxen niedergelassener Ärzte. Rund 60 Studierende nahmen am 11. Oktober 2021 ihr Studium an der Medizinischen Fakultät OWL auf. 

2017: Die 2017 neugewählte Landesregierung beschließt eine „Landarztquote“. Etwa jeder achte Studienplatz für Medizin wird für Bewerber/innen reserviert, die sich vertraglich verpflichten, zehn Jahre als Hausarzt in einer unterversorgten Region zu arbeiten. Sie erhalten den Studienplatz nach eigenen Zugangskriterien unabhängig vom Numerus Clausus. 

2017: Unter NRW-Kommunen wird auch über die Gründung kommunaler medizinischer Versorgungszentren diskutiert, um den Bedürfnissen der jüngeren Ärzte-Generation Rechnung tragen zu können.

2017: Im Kreis Steinfurt beschließt der Kreisausschuss, die Stelle eines Gesundheitslotsen im Gesundheitsamt einzurichten. Von hier aus will man um die Niederlassung junger Ärzte im Kreisgebiet werben. Hausärzten sollen günstige Baugrundstücke und Unterstützung bei der Suche nach einer Kinderbetreuung angeboten werden. 

2017: Der Hochsauerlandkreis zahlt Studierenden, die sich verpflichten, nach Ausbildungsende für eine Mindestzeit als Arzt im Kreis zu arbeiten, ein Stipendium von 500 € monatlich. 2019 wurden bereits 34 Stipendiaten gefördert.

2019: In Südwestfalen wurde, überwiegend mit EU-Fördermitteln, das Netzwerk UnternehmensWertArzt eingerichtet. Es unterstützt Ärzte bei Gründung und Betrieb einer eigenen Praxis in der Region, u.a. durch Fachinformationen, Netzwerkangebote und Veranstaltungen. Aufgrund der Förderung sind alle diese Angebote kostenlos nutzbar.

2019: Der Kreis Herford fördert die Niederlassung von Ärzten im Kreisgebiet, die mindestens fünf Jahre bleiben, auf Antrag und nach Einzelfallprüfung mit pauschal 25.000 EUR.

2019/2020: Erstes kommunales MVZ nunmehr auch in Nordrhein-Westfalen eröffnet. In der Kleinstadt Neuenrade mit 12.000 Einwohnern im Märkischen Kreis im Nordwesten des Sauerlands, hat zu Beginn des Jahres 2020 das erste kommunale Medizinische Versorgungszentrum Nordrhein-Westfalens eröffnet. Mit dem MVZ will die Stadt Neuenrade dem auch vor Ort spürbaren Ärztemangel entgegentreten. Nachwuchsärzte sind wie in vielen Gemeinden und Städten bundesweit Mangelware, der jüngste Hausarzt im Stadtgebiet von Neuenrade ist bereits 64 Jahre alt. Die für die Zulassung zuständige Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe begrüßte das Neuenrader Projekt ausdrücklich: „Kommunale medizinische Versorgungszentren könnten ein Weg sein, dem Ärztemangel auf dem Land entgegenzutreten“, sagt ihr Sprecher Stefan Spieren. Bürgermeister Antonius Wiesemann hofft, langfristig weitere Ärzte für die städtische Praxis gewinnen zu können. Denn langfristig gesichert ist die hausärztliche Versorgung in Neuenrade noch lange nicht. (Lesen Sie auch: Erstes kommunales MVZ in NRW eröffnet)

2019/2020: Parallel hierzu können 190 Städte und Gemeinden unter 40.000 Einwohner auf die Förderung des Bundeslands NRW über das Hausarztaktionsprogramm (HAP) zurückgreifen, wenn der Versorgungsgrad unter 75 Prozent liegt. Dabei werden – im Gegensatz zur üblichen KV-Definition von Unterversorgung (alle Ärzte im Planungsbereich) – lediglich die Ärzte eingerechnet, die jünger als 60 Jahre sind.

2021: Im Märkischen Kreis (Regierungsbezirk Arnsberg) wurden auf Initiative zweier Bürgermeister drei „Runde Tische“ sowie zwei Steuerkreise gegründet mit dem Ziel, die gesundheitliche Versorgung älterer Menschen zu verbessern. Das „MobilSorglos“ Projekt hatte ursprünglich den Zweck einen Lieferdienst zu gewährleisten. Jetzt kommt eine neue Funktion hinzu: Im Mobil können (vorzugsweise ältere) Patienten per Video mit am Projekt teilnehmenden Ärzten sprechen. Diese können entscheiden, ob der Online-Kontakt ausreicht oder ein persönliches Vorsprechen in der Sprechstunde erforderlich ist. Angesprochen werden insbesondere Menschen, die zu Hause nicht über eine Internetverbindung verfügen oder bei denen die Qualität nicht für eine Video-Sprechstunde ausreicht. 

2021/2022: Die KVNO fördert die Niederlassung oder Anstellung von Hausärzten mit bis zu 70.000 Euro. Sie weist zum 1.7.2021 23 von 84 hausärztlichen Planungsbereichen als förderwürdig aus, da hier die ambulante Versorgungslage besonders angespannt ist. Auch die KVWL fördert bei einer hausärztlichen Unterversorgung, mit Stand 1/2022 betrifft dies 45 von 111 Mittelbereichen.

2021/2022: Die Stadt Emmerich am Rhein (Kreis Kleve, Regierungsbezirk Düsseldorf) hat eine Arbeitsgemeinschaft zur ärztlichen Versorgung gegründet, in der sich Vertreter der Kommune zweimal jährlich mit niedergelassenen Ärzten und solchen aus Krankenhäusern treffen. Es geht vor allem darum, sich gegenseitig zu informieren und zu erfahren, welche Unterstützungsmöglichkeiten z.B. helfen könnten, eine Praxisübernahme oder -neugründung zu ermöglichen.

2022: Vergleichbar dem Hochsauerlandkreis (siehe 2017), fördert die Stadt Attendorn Medizinstudenten. Diesen werden Stipendien in Höhe von 34.000 EUR angeboten, sofern sich diese dazu entschließen mind. fünf Jahre im Stadtgebiet niederzulassen. Sofern die Förderung zum Wintersemester 2022/23 startet, sind die angehenden Mediziner, die die Stipendien in Anspruch nehmen, frühestens gegen Ende dieses Jahrzehnts mit dem Studium fertig. Neben einem Niederlassungszuschuss, welcher auch für Zahnärzte gilt, sollen auch Schüler dazu angeregt werden, später den Ärzteberuf zu ergreifen. Bei der sogenannten „MedNight“ können junge Schüler und Jugendliche mit Ärzten ins Gespräch kommen.

2022: Online-Seminar „Gründung kommunaler Medizinischer Versorgungszentren“ mit hoher Resonanz. An der von dostal & partner initiierten Seminar-Reihe nehmen über 30 kommunale Akteure aus 17 Kommunen teil. Aufgrund des positiven Feedbacks wird es im Herbst 2022 eine Fortsetzung geben.

Wieso gibt es in Deutschland einen Ärztemangel?

Mit 4,4 Haus- und Fachärzten auf 1.000 Einwohnern (Stand 2019) ist Deutschland hinter Norwegen (4,9 Ärzte pro 1.000 Einwohner) eines der ärztlich am besten versorgten Länder der Welt. Allerdings zieht es – wie oben geschildert – viele Ärzte in Städte und Ballungsgebiete – was im ländlichen Raum zum Teil zu erheblichen Nachwuchsproblemen führt – insbesondere im hausärztlichen Bereich. Doch das Problem ist deutlich komplexer als es auf dem ersten Blick scheint:

  • Es gehen deutlich mehr Ärzte in den Ruhestand als junge Mediziner nachfolgen.
  • Auch die bundesgesetzlich vorgegebene Bedarfsplanung (in vielen Facharztgebieten nur großräumig und im Übrigen unflexibel) und die unzureichende Nutzung sektorenübergreifender Versorgungsressourcen tragen zu der Verteilungsproblematik bei.
  • Viele der neu in die Versorgung einsteigenden Ärzte wollen anders arbeiten als ihre älteren Kollegen. Dazu zählt u.a. das Arbeiten in einem ärztlichen Team, die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Möglichkeit die ärztliche Tätigkeit in Teilzeit ausüben zu können. 
  • Die Praxisstruktur mit bundesweit rd. 39 Prozent Einzelpraxen und bis zu 20 Prozent Gemeinschaftspraxen mit zwei Ärzten ist auf das Thema Anstellung meist weder räumlich noch hinsichtlich der internen Praxisabläufe vorbereitet. Sie fallen als attraktive Arbeitgeber aus. 
  • Gleichzeitig können sie die Chancen der Digitalisierung, der kapital- und know-how-intensiven Gerätemedizin und der möglichen Delegation ärztlicher Tätigkeiten an das (neue) Praxispersonal aufgrund ihrer (aus betriebswirtschaftlicher Sicht) zu geringen Größe kaum nutzen. 

Angesichts dieser Herausforderungen müssen alle Beteiligten – Bund, Land, Selbstverwaltung und Kommunen – gemeinsam daran arbeiten, die Versorgungsstrukturen, die Arbeitsbedingungen und die örtliche Infrastruktur an den Bedürfnissen der nachwachsenden Ärztegeneration auszurichten. (Lesen Sie auch: Hausärztemangel – Prognose bis 2035)

Quelle: KBV

Weitere informative Beiträge zu den Themen moderne medizinische Versorgung und Bewältigung des Ärztemangels finden Sie in unserem Magazin Impulse