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100 – so viele kommunale MVZ soll es 2030 in Deutschland geben

100 kommunale MVZ

100 – so viele Medizinische Versorgungszentren (MVZ) soll es bundesweit Ende des Jahrzehnts in kommunaler Trägerschaft geben. „Aufgrund unserer Projekterfahrungen und Marktbeobachtungen gehen wir zum Jahreswechsel 2029/30 von mindestens 100 haus- und fachärztlichen kommunalen MVZ im Bundesgebiet aus“ ergänzt Gabriele Dostal, Prokuristin und verantwortliche Projektleiterin von dostal & partner. „Ende 2021 hatten bereits 19 MVZ in kommunaler Trägerschaft ihre jeweilige Zulassung bei der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) erfolgreich beantragt und den Betrieb aufgenommen. Filialstandorte nicht mitgerechnet. Zum Jahresbeginn hatten wir mit jeweils 6-7 Gründungen im laufenden Jahr sowie im Folgejahr gerechnet, doch aufgrund der vermehrten Anfragen von Gemeinden und Städten mussten wir unsere Hochrechnung deutlich anpassen. Als Hinweis sei erwähnt, dass hierzu nicht die (meist) fachärztlichen Medizinischen Versorgungszentren von Landkreiskliniken, die meistens als „Einweiser“ zwangsweise „rote“ Zahlen schreiben, zählen.“

Die Zahl der unbesetzten Hausarztsitze liegt derzeit bundesweit bei rd. 4.000 und wird bis zum Jahr 2030 auf deutlich über 11.000 angewachsen sein. In der Bundesrepublik findet derzeit – noch weitgehend unbemerkt – eine Transformation des ambulanten Sektors statt. Die beruflichen Anforderungen der nachrückenden Ärztegeneration führen zu einer Abkehr von der freiberuflichen ärztlichen Tätigkeit. Das Einzelkämpferdasein schreckt immer mehr Mediziner ab. Im Fokus steht vermehrt die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit im Angestelltenverhältnis, Teilzeitmodelle nehmen hierbei einen immer größer werdenden Stellenwert ein. Die Folge ist ein doppelter Sogeffekt der Städte. Neben einem generell höheren Anteil an Privatpatienten und damit einem potenziell größeren Honorarvolumen, bieten häufig diese Ballungsräume die gewünschten Anstellungs- bzw. Teilzeitmodelle. ‚Auf dem Lande‘ klaffen hingegen Angebot und Nachfrage weit auseinander, die Einzelpraxis ist hier mit rund 90 % die häufigste Berufsausübungsform. (Lesen Sie auch: Hausärztemangel – Prognose bis 2035)

MVZ als Lösung zur Bewältigung des Ärztemangels

„Kommunen wird zunehmend bewusst, dass das einzig wirksame Mittel zur Bewältigung des Ärztemangels und Sicherstellung einer langfristigen ärztlichen Versorgung ihrer Bevölkerung in der Gründung eines Medizinischen Versorgungszentrums liegt. Vorausgesetzt es bieten sich keine privatwirtschaftlichen Lösungen an, welchen grundsätzlich der Vorzug gegeben werden sollte. Doch erhalten wir immer öfters Anfragen von Gemeinden, welche von der am Ort ansässigen Ärzteschaft konkret auf die Möglichkeit eines kommunalen MVZ angesprochen worden sind. Auch für viele Abgeber-Ärzte, welche sich kurz- bis mittelfristig, d.h. innerhalb der nächsten zwei bis fünf Jahre aus dem Berufsleben zurückziehen möchten, bieten sich hierdurch immense Chancen. Zu nennen wäre hierbei die Möglichkeit der Altersteilzeit sowie die attraktive Veräußerung von Arztsitz und -praxis.“

Dass Medizinische Versorgungszentren dem Anforderungsprofil nachrückender Ärztinnen und Ärzte entsprechen ist hierbei keine bloße Vermutung. Mittlerweile sind sie fester Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung. 2022 zählen wir über 3.700 privatwirtschaftliche MVZ, in denen mehr als 24.000 Ärzte ihre Patienten versorgen. Seit 2015 sind auch Kommunen gründungsberechtigt. (Lesen Sie auch: Gründung kommunaler MVZ im Landkreis Darmstadt-Dieburg – Interview)

Quelle: Eigene Darstellung

Mögliche Rechtsformen von kommunalen MVZ im Überblick

Im GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VSG) hat der Gesetzgeber 2015 definiert, in welchen Rechtsformen Kommunen MVZ in kommunaler Trägerschaft gründen dürfen. So sind öffentlich-rechtliche Rechtsformen i.S.d. § 95 Abs. 1a Satz 2 SGB V eine zulässige Rechtsform für ein MVZ. Damit sind Eigen- und Regiebetriebe sowie Anstalten des öffentlichen Rechts / Körperschaften des öffentlichen Rechts als Rechtsformen für ein kommunales MVZ zulässig. Als privatrechtliche Gesellschaftsformen hat der Gesetzgeber die Rechtsformen (g)GmbH und Genossenschaft (e.G.) zugelassen. 

Firmieren Kommunen als Gründer und Träger von MVZ, bewegen sie sich in zwei Rechtsgebieten Kommunalrecht und Sozialgesetzgebung. Dabei steht das kommunale Wirtschaftsrecht der Gründung und der Trägerschaft eines MVZ durch Kommunen nicht grundsätzlich im Wege. Die KVen verlangen eine selbstschuldnerische Bürgschaft von ihren freiberuflichen Vertragspartnern. Dies müssen auch die Kommunen als Vertragspartner der KV erfüllen. Dabei stoßen sie auf die Eingrenzungen des Kommunalrechts, welches selbstschuldnerische Bürgschaften der Kommunen nicht vorsieht. 

Im Falle eines Eigen- oder Regiebetriebs ist dies aus Sicht der KV kein Problem. Die Kommune haftet. Auch eine MVZ-Trägerschaft in Form einer Anstalt oder Körperschaft des öffentlichen Rechts stellt kein Problem dar. Eher problematisch, weil im Zusammenspiel von Kommune und KVen noch relativ unbekannt, waren und sind dagegen die privatwirtschaftlichen Varianten, hier vor allem die GmbH. 

Die Rechtsformen der Anstalt des öffentlichen Rechts und der Körperschaft des öffentlichen Rechts sind in ihrer Bedeutung für die Kommune sehr unterschiedlich. Beide bündeln sachliche Mittel (z.B. öffentliches Grundstück & Gebäude, Einrichtung und Fahrzeuge) und Personal in einer rechtlich selbständigen Organisationseinheit und unterliegt dem öffentlichen Recht. Dabei hat die Anstalt des öffentlichen Rechts Nutzer und die Körperschaft des öffentlichen Rechts Mitglieder. Die AöR ist somit ein starres System, das bei jeder Änderung geschlossen und neu gegründet werden muss, die KdöR kann zumindest andere Kommunen integrieren und sich somit weiterentwickeln.

Langfristig empfehlenswert für Kommunen ist die Rechtsformen der (g)GmbH. Hier beschränkt sich der Beitrag der Kommunen auf die Gründungsinitiative und im laufenden Betrieb auf das betriebswirtschaftliche Controlling und die strategische Verantwortung für die Entwicklung des MVZ. Gerade bei einer möglichen Beteiligung Dritter ist die o.g. Rechtsform zu bevorzugen. (Lesen Sie auch: Rechtliche Hürden bei der Gründung kommunaler MVZ)

Gemeinnützigkeit prüfen – Steuerlast reduzieren

Die Gründung eines kommunalen MVZ in Form einer gGmbH hat neben dem Vorteil der Steuerbegünstigung auch einige Nachteile. Das zuständige Finanzamt prüft jeweils den Gesellschaftsvertrag auf die Passagen, die für die Anerkennung einer Gemeinnützigkeit relevant sind. Hierzu gehört z.B. auch, das präzise formulierte Verbot, Gewinnanteile aus der gGmbH zu ziehen (Anm.: Ausnahme die Gesellschafter sind auch gemeinnützig) und bei Auflösung der gGmbH die, den Anteilen der Gesellschafter übersteigenden Kapitalbeträge anderen gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Organisationen zu überschreiben. Vor Gründung der gGmbH ist also konkret zu überlegen, wie die gründende Kommune mit den Überschüssen des kommunalen MVZ umgehen möchte.

Welche Sicherheitsleistungen müssen Kommunen geben?

Auch Kommunen müssen als Träger kommunaler MVZ gegenüber der KV eine Sicherheitsleistung für mögliche Regresse abgeben. Die Art dieser Sicherheitsleistung ist von der gewählten Rechtsform abhängig. Im Fall der kommunalen Rechtsformen Regiebetrieb, Eigenbetrieb, Anstalt oder Körperschaft des öffentlichen Rechts ist hier keine formale Abgabe einer selbstschuldnerischen Bürgschaft oder andersgearteten Sicherheitsleistungen notwendig, da ohne eigene Rechtspersönlichkeit des kommunalen MVZ die Kommunen jeweils automatisch voll haften.

Ein Blick auf die bestehenden kommunalen MVZ zeigt, dass die privatwirtschaftliche Rechtsform der (g)GmbH vor der AöR am beliebtesten ist. Die Gründung eines kommunalen MVZ in der Rechtsform einer GmbH hat für Kommunen neben vielen Vorteilen allerdings auch eine Gründungsschwäche. Die Kommune muss eine selbstschuldnerische Bürgschaft abgeben. 

Kommunalrechtlich ist es den Kommunen nur mit Zustimmung der jeweiligen Rechtsaufsicht erlaubt, eine selbstschuldnerische Bürgschaft abzugeben. Da der Bundesgesetzgeber ausdrücklich eine Beteiligung der Kommunen bei der wohnortnahen, d.h. hausärztlichen Versorgung der Bevölkerung möchte, hat er die Möglichkeit einer anderen Sicherheitsleistung nach § 232 BGB eingefügt. § 232 BGB definiert gleichzeitig auch die „Arten“ der Sicherheitsleistung. Leider noch in der Ursprungsform aus dem Jahr 1941. Da gründungswillige Kommunen keine der dort benannten Sicherheitsleistungen hinterlegen können, ist der Rückgriff auf einen „tauglichen“ Bürgen, d.h. auf eine Bankbürgschaft in bestimmter Höhe notwendig. Wichtig ist hier zu wissen, dass diese Sicherheitsleistung nichts mit der Berufshaftpflichtversicherung bei Behandlungsfehlern zu tun hat. Diese wird durch eine Berufshaftpflichtversicherung des MVZ für seine Ärzte abgedeckt. 

Da noch nicht alle KVen bzw. ihre jeweiligen Zulassungsausschüsse Erfahrungen mit dieser Art der Sicherheitsleistung haben, ist es sinnvoll frühzeitig Kontakt mit dem jeweiligen Justiziar der Bezirksstelle aufzunehmen, in der der Zulassungsausschuss liegt. Mit diesem ist die Höhe der notwendigen Bankbürgschaft und ggf. auch die erforderliche Formulierung der Bürgschaftsurkunde abzustimmen. Die Höhe der Bürgschaft bemisst sich dabei immer an der Anzahl der Arztsitze und der Facharztausrichtungen. Bei zwei Arztsitzen der Allgemeinmedizin werden hier aktuell Bürgschaften in Höhe von rd. 1,2 Mio. € verlangt. Verlangen die Banken, welche die Bürgschaft geben, Rückbürgschaften durch die Kommunen, sind hier vorab entsprechende Gremienbeschlüsse notwendig. Durch Versicherungen wie eine D&O-Versicherung (Organversicherung), Unternehmensrisiko- und Regressversicherungen können die ggf. befürchteten Risiken für die Kommune abgesichert werden. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass sich der Abstimmungsprozess mit den Banken – hier wird von den Kommunen meist auf die ortsansässigen Sparkassen oder Volksbanken zurückgegriffen – durchaus zwei Monate hinziehen kann. Denn auch für die beteiligten Banken ist dies Neuland.

Genehmigungspflichtige Leistungen

Wird das kommunale MVZ auf Basis von bereits bestehenden Arztpraxen gegründet, d.h. findet eine Umgründung statt, ist bereits während des Zulassungsprozesses das Augenmerk auf die genehmigungspflichtigen Leistungen zu richten. Um diese Leistungen bei der jeweiligen KV abrechnen zu können, muss der Arzt entsprechende Weiterbildungspunkte vorweisen. Diese müssen in bestimmten Zeitabständen wiederholt werden. Sind die entsprechenden Leistungen an Geräte gekoppelt, müssen jeweils auch die technischen Spezifikationen der Geräte angegeben werden. Dies ist für bereits niedergelassene Ärzte nahezu „Tagesgeschäft“. Häufig wird jedoch im Falle einer Umgründung, bei der nach wie vor die gleichen Ärzte beteiligt sind, vergessen die genehmigungspflichtigen Leistungen neu zu beantragen. Im günstigsten Fall kann dies durch eine „Sammelerklärung“ erfolgen, im ungünstigsten Fall muss jede einzelne Leistung neu beantragt werden. Dies muss zügig erfolgen, da sonst deutliche Honorareinbußen im ersten Abrechnungsquartal des kommunalen MVZ auftreten. Eine nachträgliche Beantragung und Auszahlung der Honorare ist nicht möglich.

Fazit

Je nachdem, inwiefern sich die betreffende Kommune in das Thema einbringen will, sind unterschiedliche Engagement-Stufen erkennbar, diese reichen vom bloßen Moderieren bis hin zur neuen Rolle als Gesundheitsversorger. Mit dem Ausbau des Engagements steigt die Notwendigkeit personelle und finanzielle Ressourcen für die Thematik aufzuwenden oder sich externer Unterstützung zu versichern. „Kommunen kommen anfangs mit ganz unterschiedlichen Problemstellungen zu uns: Dem Neubau eines Gesundheitszentrums, welches die Gemeinde an Ärzte und Therapeuten vermieten möchte, das bloße Ausloten der aktuellen IST-Situation durch Gespräche mit den ärztlichen Akteuren oder bereits ganz konkreten Vorstellungen hinsichtlich der Übernahme von zwei Abgeber-Praxen und die entsprechende Umgründung in ein kommunales MVZ. Häufig ändert sich während eines solchen Projekts die Stoßrichtung und aus dem ursprünglich angedachten Mietobjekt eines Gesundheitszentrums entsteht nach Gesprächen mit den am Ort ansässigen Ärzten ein MVZ in kommunaler Trägerschaft, von welchen alle Parteien profitieren“, resümiert Gabriele Dostal. „Es würde mich daher nicht überraschen, wenn am Ende des Jahrzehnts deutlich mehr als die anvisierten 100 kommunalen MVZ in Deutschland existieren würden. Die (immer noch) andauernde Corona-Pandemie wirkt hierbei eindeutig als Katalysator und hat den unschätzbaren Wert einer wohnortnahen ärztlichen Grundversorgung aufgezeigt“.

Weitere informative Beiträge zu den Themen moderne medizinische Versorgung und Bewältigung des Ärztemangels finden Sie in unserem Magazin Impulse