Niedersachsen Ärztemangel
Serie: Wie reagieren Deutschlands Bundesländer auf den Ärztemangel (Teil I: Niedersachsen)
29. Januar 2022
Nordrhein-Westfalen Ärztemangel
Serie: Wie reagieren Deutschlands Bundesländer auf den Ärztemangel (Teil III: Nordrhein-Westfalen)
3. April 2022

Serie: Wie reagieren Deutschlands Bundesländer auf den Ärztemangel (Teil II: Baden-Württemberg)

Ärztemangel Baden-Württemberg

Nach Schätzungen der baden-württembergischen Landesregierung hatten 2019 rund 665 000 Menschen in Baden-Württemberg keinen Hausarzt an ihrem Wohnort. Die Kassenärztliche Vereinigung ging zu diesem Zeitpunkt bereits von mehr als 600 unbesetzten Stellen für Hausärzte aus. (Lesen Sie auch: Hausärztemangel – Prognose bis 2035)

Der Ärztemangel in Baden-Württemberg im Überblick

Es wird immer schwieriger, Nachfolger für Haus- und Facharztpraxen zu finden, mittlerweile sind in ganz Baden-Württemberg rund 700 hausärztliche Stellen (Stand 2021) unbesetzt. Ein Überblick zur aktuellen Versorgungssituation und zu den Aktivitäten der KVBW liefert der Bericht „Die ambulante medizinische Versorgung 2021“, den die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) kürzlich veröffentlicht hat. 

Darin heißt es unter anderem vom stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der KVBW Dr. Fechner: „Die Zahl der KVBW-Mitglieder steigt zwar nach Köpfen, durch vermehrte Anstellung und Teilzeitarbeit sinkt jedoch die zur Verfügung stehende Arztzeit insgesamt. In den kommenden Jahren werden viele haus- und fachärztliche Praxen keine Nachfolger finden. Wir stecken daher in einem gravierenden Strukturwandel, den es zu bewältigen gilt“. Die Kassenärztliche Vereinigung resümiert folgerichtig, dass „größere ärztliche Kooperationen gefragt [seien], die Teamarbeit und die gewünschten Arbeitszeitmodelle des medizinischen Nachwuchses besser umsetzen können.“

Hintergrund dieser bundesweiten Entwicklung ist der Trend, dass es viele junge Ärztinnen und Ärzte in Städte und Ballungsgebiete zieht, was im ländlichen Raum zum Teil zu erheblichen Nachwuchsproblemen führt – insbesondere im hausärztlichen Bereich. Doch das Problem ist deutlich komplexer als es auf dem ersten Blick scheint:

  • Es gehen deutlich mehr Ärzte in den Ruhestand als junge Mediziner nachfolgen.
  • Auch die bundesgesetzlich vorgegebene Bedarfsplanung (in vielen Facharztgebieten nur großräumig und im Übrigen unflexibel) und die unzureichende Nutzung sektorenübergreifender Versorgungsressourcen tragen zu der Verteilungsproblematik bei.
  • Viele der neu in die Versorgung einsteigenden Ärzte wollen anders arbeiten als ihre älteren Kollegen. Dazu zählt u.a. das Arbeiten in einem ärztlichen Team, die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Möglichkeit die ärztliche Tätigkeit in Teilzeit ausüben zu können. 

Vor allem im ländlichen Raum klaffen damit Angebot (Praxisart und Angestelltenmöglichkeiten) und Nachfrage (Arbeiten im ärztl. Team, Angestellt sein, Teilzeit, geringes unternehmerisches Risiko tragen) auseinander. Die Folge dieser Diskrepanz nennt sich dann Ärztemangel. Es ist daher offensichtlich, dass zur langfristigen Sicherstellung einer wohnortnahen (haus-)ärztlichen Versorgung der Bevölkerung strukturelle Veränderungen herbeigeführt werden müssen. Doch gerade im ländlichen Raum hemmen zwei Faktoren diese Entwicklung:

  • Ein hoher Altersanteil bei den niedergelassenen Ärzten sowie
  • vergleichsweise viele (bis zu 80%) Einzelpraxen – das unternehmerische Risiko einer Einzelpraxis sowie die Wochenarbeitszeit (bis zu 65 Std./Woche) erschweren die Praxisübergabe

Angesichts dieser Herausforderungen müssen alle Beteiligten – Bund, Land, Selbstverwaltung und Kommunen – gemeinsam daran arbeiten, die Versorgungsstrukturen, die Arbeitsbedingungen und die örtliche Infrastruktur an den Bedürfnissen der nachwachsenden Ärztegeneration auszurichten.

Quelle: KBV
Quelle: Eigene Darstellung, destatis

Wie reagieren die betroffenen Akteure in Baden-Württemberg – Chronologie:

2014: „Hausarzt-Tour“: Bei der „TK-Hausarzt-Tour“ brachte die Techniker Krankenkasse Medizinstudenten und Bürgermeister ins Gespräch. Dabei warben die Kommunen um die Niederlassung als Hausarzt und stellten u.a. günstiges Bauland in Aussicht. Es zeigte sich aber auch, dass junge Mediziner häufig lieber angestellt und im Team als allein und selbständig arbeiten möchten. 

2015: Masterplan: Der Landkreis Calw entwickelte für eine vorausschauende Planung einen Masterplan „Hausärztliche Versorgung im Landkreis Calw“. 

2018: Gesundheitszentrum: Die Gemeinde Knittlingen (Enzkreis) plant den Bau eines Gesundheitszentrums, in dem mehrere Ärzte unter einem Dach praktizieren. Dies soll die ärztliche Versorgung sicherstellen. (Anm.: noch nicht fertiggestellt).

2018/2019

  • Die Gemeinde Lehrensteinsfeld (Landkreis Heilbronn) baute in der Ortsmitte eine Praxis und vermietet diese ohne Renditeerwartung an einen Allgemeinmediziner.
  • Ähnlich Cleebronn, das neben den Baukosten von 500.000 € noch 100.000 € in die Praxiseinrichtung investierte. 
  • Neckarwestheim förderte mit 1,5 Mio. € ein Ärztehaus mit Apotheke sowie 14 betreuten Wohnungen. 
  • Ellhofen lobte öffentlich eine Prämie von 5.000 € für die Vermittlung eines Arztes aus und hält auf eigene Kosten neu gebaute Räumlichkeiten für eine Praxis frei. 
  • Mulfingen und Eppingen schalteten Anzeigen und beauftragten Personalvermittler. Das ehemalige Eppinger Krankenhaus war schon vor Jahren in ein Ärztezentrum umgebaut worden. 
  • Güglingen gibt Allgemein- und Fachärzten einen Zuschuss von 50.000 Euro, wenn sie sich im Ort niederlassen. 

2019: Der Gemeindetag Baden-Württemberg, der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband, der Hausärzteverband u.a. legten im September 2019 eine Untersuchung zu einem Modellprojekt vor, in dem genossenschaftliche Hausarztmodelle in 21 Kommunen getestet wurden. Ein medizinisches Versorgungszentrum in der Rechtsform einer Genossenschaft ermöglicht Ärzten geregelte Arbeitszeiten, Teamarbeit und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und kann so die Niederlassung im ländlichen Raum erleichtern. 

2019: Um die ambulante medizinische Versorgung der Menschen flächendeckend zu sichern, brachte das Sozialministerium das Aktionsprogramm „Landärzte“ auf den Weg. Die Landesregierung stellt ein Förderprogramm mit einer finanziellen Ausstattung in Höhe von insgesamt 6,95 Mio. Euro zu Verfügung. Fördermittel können grundsätzlich in folgenden Bereichen beantragt werden:

Förderbaustein „Landärzte“: Ziel der finanziellen Unterstützung im Rahmen des Förderprogramms „Landärzte“ ist die Verbesserung der ambulanten hausärztlichen Versorgung. Dies gilt für Fördergebiete im ländlichen Raum, in denen es heute schon Versorgungsengpässe gibt bzw. perspektivisch geben kann. Eine Hausärztin oder ein Hausarzt erhält bis zu 30.000 Euro Landesförderung, wenn er sich in Baden-Württemberg in einer ländlichen Gemeinde niederlässt, deren hausärztliche Versorgung nicht oder in naher Zukunft nicht mehr gesichert ist. Seit Beginn des Förderprogramms „Landärzte“ im Jahr 2012 wurden bis Ende 2019 mehr als 130 Ärztinnen und Ärzte mit 2,5 Millionen Euro finanziell unterstützt. Von Beginn an wurde das Förderprogramm sehr gut angenommen.

Förderbaustein „Kommunale Gesundheitskonferenzen“: Kommunale Gesundheitskonferenzen sollen die Plattform zur Vernetzung der Akteure auf der kommunalen Ebene sein. Dies gilt unter anderem auch für die sektorenübergreifende Planung und Steuerung medizinischer Angebote, um Versorgungsengpässe zu vermeiden und knappe personelle Ressourcen effizient zu verteilen. Das Land hat die Einrichtung von Kommunalen Gesundheitskonferenzen, einschließlich Kreisstrukturgesprächen, mit insgesamt 1,75 Millionen Euro finanziell unterstützt. In allen Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs sind seit dem Jahr 2019 Kommunale Gesundheitskonferenzen eingerichtet.

2019: Um dem Ärztemangel abzuhelfen beschritt die Stadt Tengen 2019 einen vollkommen neuen Weg der Finanzierung und gründete für die Errichtung eines Ärztehauses eine „Bürger-Genossenschaft“. In der Zwischenzeit sind rd. 400 Bürger und Bürgerinnen, die Mitglieder in der Genossenschaft sind. Die Mindesteinlage lag bei 500 Euro. (Lesen Sie auch: Eine Genossenschaft zur Bewältigung des Ärztemangels – Interview)

2019/2020: Die Stadt Bad Säckingen gründete 2019 das erste kommunales Medizinische Versorgungszentrum Baden-Württembergs, die Inbetriebnahme erfolgte 2020. (Lesen Sie auch: Erstes kommunales MVZ in Baden-Württemberg – Interview)

2020: Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) setzt auf Primärversorgungszentren, in denen Menschen aus verschiedenen Fachgebieten zusammenarbeiten. Kommunen, die ein solches Zentrum aufbauen, können auf Antrag einen Zuschuss von bis zu 150.000 € erhalten. 

2020: Mit dem Programm „Ziel und Zukunft“ (ZuZ) fördert die KVBW die Gründung oder Übernahme von Arztpraxen in strukturschwachen Regionen mit bis zu 80.000 Euro. Im Jahr 2020 wurden 117 Praxisgründungen oder -übernahmen unterstützt.

2021: Die Gemeinde Mögglingen gründete 2021 ein hausärztliches MVZ in kommunaler Trägerschaft, die Inbetriebnahme erfolgte noch im selben Jahr.

2022: Die Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) Rothauser Land eG wurde im Rahmen der o.g. Genossenschaftsförderung mit Sitz in Grafenhausen gegründet.

2022/2023: Derzeit befinden sich schätzungsweise 5-10 kommunale MVZ in Baden-Württemberg in Planung / Gründung. 

Weitere informative Beiträge zu den Themen moderne medizinische Versorgung und Bewältigung des Ärztemangels finden Sie in unserem Magazin Impulse