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Erstes kommunales Medizinisches Versorgungszentrum in Baden-Württemberg – Interview
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Ärztemangel Baden-Württemberg
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Serie: Wie reagieren Deutschlands Bundesländer auf den Ärztemangel (Teil I: Niedersachsen)

Niedersachsen Ärztemangel

Das Problem des Ärztemangels ist seit Langem bekannt. In erster Linie im ländlichen Raum ist die grundlegende und vor allem wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung mit Hausärztinnen und Hausärzten (im Folgenden: Hausärzte) nicht mehr flächendeckend gewährleistet. Zwar haben zahlreiche Landesregierungen einen Gesetzentwurf zur Landarztquote für die Ausbildung von Allgemeinmediziner vorgelegt, doch diese Maßnahme wirkt einerseits stark zeitverzögert (das Gros der ausgebildeten Mediziner steht frühestens in einem Jahrzehnt zur Verfügung), andererseits wird das hinter dem Ärztemangel stehende strukturelle Problem nicht angegangen. (Lesen Sie auch: Hausärztemangel – Prognose bis 2035)

Der Ärztemangel in Niedersachsen im Überblick

2030 werden 60 Prozent der rund 5.000 niedersächsischen Hausärzte im Rentenalter sein. Gleichzeitig wird jedoch aufgrund des demografischen Wandels der Versorgungsbedarf der Bevölkerung spürbar ansteigen, Mobilitätsprobleme in ländlichen Regionen für eine immer älter werdende Bevölkerung verlangen eine wohnortnahe ärztliche Grundversorgung. So berichtet der größte Sozialverband in Niedersachsen SoVD (niedersachsenweit mehr als 270.000 Mitglieder), dass die Beschwerden aus der Bevölkerung bzgl. der Nicht-Erreichbarkeit bzw. Nicht-Verfügbarkeit von Haus- und Facharztpraxen stetig zunehmen. 

Gleichzeitig berichtete die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) vergangenes Jahr, dass bis 2035 die Zahl der niedersächsischen Hausärzte von gegenwärtig 5044 auf 3750 sinken wird. Bei den Fachärzten droht eine Unterversorgung auf dem Land, dies bedeutet, dass von zehn Facharztpraxen nur noch sechs erfolgreich einen Praxisnachfolger finden werden. Der KVN-Vorstandschef Mark Barjenbruch konstatierte „Die Sicherstellung der flächendeckenden vertragsärztlichen Versorgung wird immer schwerer werden“. Der Präsident des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes, Marco Trips, kommentierte diese Einschätzung wie folgt: „Wenn sich nichts tut, haben wir künftig das Problem, dass in einigen Teilen unseres Landes die Bevölkerung nur eine ärztliche Versorgung zweiter Klasse oder nur in weiter Entfernung bekommt“.

Der SoVD verweist daher folgerichtig auf die Schaffung attraktiver Teilzeitmodelle für junge Ärztinnen und Ärzte, um sich den ändernden Berufsanforderungen anzupassen. Darüber hinaus fordert der SoVD die Errichtung regionaler Gesundheitszentren mit interdisziplinären Facharztrichtungen. Der Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ der neuen Bundesregierung bietet den betroffenen Akteuren (Kassenärztliche Vereinigung, Ärzteschaft und Kommunen) zahlreiche Anknüpfpunkte.

Letztere können seit 2012 eigene Einrichtungen zur unmittelbaren medizinischen Versorgung der Versicherten eröffnen und damit an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. Mit Verabschiedung des „GKV-Versorgungsstärkungsgesetz“ im Jahr 2015 wurden die Kommunen u.a. in die Lage versetzt, stärkere Anreize für die Niederlassung von Ärzten zu setzen und selbst medizinische Versorgungszentren einzurichten. 

Leichtere Gründung von medizinischen Versorgungszentren für Kommunen

So werden die Ziele der Ampel-Koalition im Bereich „Pflege und Gesundheit“ in Kapitel IV („Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“) auf acht Seiten dargestellt. Einleitend wird in einer Art Präambel das Grundverständnis der Koalitionspartner betont: 

„Alle Menschen in Deutschland sollen gut versorgt und gepflegt werden – in der Stadt und auf dem Land. Wir wollen einen Aufbruch in eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik und ziehen Lehren aus der Pandemie, die uns die Verletzlichkeit unseres Gesundheitswesens vor Augen geführt hat. […] Wir ermöglichen Innovationen und treiben die Digitalisierung voran. […].“ (S. 80)

Die Koalition hat ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht, zusammen mit den Krankenversicherern ärztlich unterversorgte Gebiete zu stärken. Kommunen sollen mit weniger bürokratischen Hürden medizinische Versorgungszentren gründen und Zweigpraxen aufbauen können. Damit hat der Gesetzgeber die sich abzeichnende Transformation weg von der Ein-Mann-Praxis hin zu größeren Versorgungszentren mit mind. zwei oder drei Ärzten erkannt. Diese Mehrbehandlerpraxen werden somit zukünftig wohl auch Ausgangspunkt für die investitionsintensive Digitalisierung (Telemedizin) sein.

Wie reagieren die betroffenen Akteure in Niedersachsen – Chronologie:

2017: Der Niedersächsische Städte- und Gemeindebund (NSGB) hat einen Arbeitskreis gegründet, der die Probleme aus den Kommunen aufgreifen, einen Handlungskatalog erarbeiten und die Landespolitik in die Pflicht nehmen soll. Er hält die Tatsache für alarmierend, dass in Niedersachsen Stand Juni 2017 359 Hausarztsitze unbesetzt sind (Anm.: zum Jahreswechsel 2021/22 schätzungsweise 500). 

Der Landkreis Holzminden gründet gemeinsam mit den kreisangehörigen Gemeinden, der Ärzteschaft und der Kassenärztlichen Vereinigung einen Ausbildungsverbund, um die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin im Landkreis zu unterstützen. Dazu wurde im Dezember 2017 ein „Letter of Intent“ (Absichtserklärung) unterzeichnet. Die Initiative entstand im Rahmen der Gesundheitsregion Holzminden. 

Der Rat der Stadt Werlte beschloss im September 2016 die Gründung eines Medizinischen Versorgungszentrums in eigener Trägerschaft MVZ-Werlte (kAöR), welches im Juli 2018 eröffnet wurde. Bis zum Start der Praxis vergingen also rund zwei Jahre für die Vorbereitungen und Zulassungen. Bereits die ersten beiden Quartale wurden erfolgreich gestaltet und aus dem Stand ein positives wirtschaftliches Ergebnis erzielt. (Lesen Sie auch: Niedersachsens erstes kommunales Medizinisches Versorgungszentrum – Interview)

2018 forderte der NSGB die Einführung einer Landarztquote: Ein Teil der Studienplätze im Fach Medizin solle an die Zusage des/der Studierenden gebunden werden, für eine gewisse Zeit eine Landarztpraxis zu übernehmen. Er erinnerte die Landesregierung an ihre Zusage, 200 zusätzliche Studienplätze zu schaffen – die Kassenärztliche Vereinigung fordert bis zu 300 zusätzliche Studienplätze. (Lesen Sie auch: Die Landarztquote – Ein Lösungsbeitrag für die Zeit nach 2030)

Der niedersächsische Landtag hat Ende 2018 eine Enquetekommission „Sicherstellung der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung in Niedersachsen – für eine qualitativ hochwertige und wohnortnahe medizinische Versorgung“ eingesetzt, die Anfang 2021 ihren Bericht vorlegte. Die Kommission sieht eine „mangelnde flächendeckende Verteilung“ der ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen und befürchtet eine zunehmende Überlastung insbesondere der hausärztlichen Kapazitäten. Krankenhausstandorte, die nicht (mehr) dauerhaft betrieben werden können oder müssen, sollten in andere Versorgungsmodelle wie regionale Gesundheitszentren umgewandelt werden. Die Kommission empfiehlt ausdrücklich die Gründung solcher Gesundheitszentren und hat in einer Arbeitsgruppe ein Modell hierfür entwickelt. Hierfür solle zunächst eine fünfjährige Modellphase vorgesehen werden.

Anfang 2019 forderte der Städte- und Gemeindebund (NSGB) erneut einen schnellen Ausbau der Medizinstudienplätze und eine Landarztquote. 

Das Land Niedersachsen fördert seit 2020 über das Niedersächsische Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regionale Entwicklung mit dem Förderprogramm ‚Regionale Versorgungszentren‘ Modellprojekte, die unter dem Dach eines Regionalen Versorgungszentrums (RVZ) auch ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) umfassen. Damit sollen Dienstleistungen zur Daseinsvorsorge an zentralen, gut erreichbaren Orten gebündelt werden. Die Landkreise Wesermarsch, Cuxhaven, Wolfenbüttel, Nordenham, Schaumburg sind hier bereits aktive Fördernehmer. 

Das Förderprogramm Zukunftsräume Niedersachsen richtet sich seit 2020/2021 an Klein- und Mittelstädte sowie Gemeinden und Samtgemeinden ab 10.000 Einwohnern im ländlichen Raum, die als Grund- und Mittelzentrum wichtige Ankerfunktionen für die umliegenden ländlichen Räume erfüllen. Hier wurden bislang 59 Zuwendungsbescheide übergeben.

Weitere informative Beiträge zu den Themen moderne medizinische Versorgung und Bewältigung des Ärztemangels finden Sie in unserem Magazin Impulse