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Ärztemangel in Österreich: Ein Blick in unser Nachbarland

Österreich Ärztemangel

Studie belegt eklatanten Ärztemangel in Österreich

Die bereits 2019 veröffentlichten Ergebnisse einer DACH-Studie zu den Gesundheitsausgaben in Österreich, Deutschland und der Schweiz des Berliner IGES-Instituts und des Forschungsinstituts für Freie Berufe der Wirtschaftsuniversität Wien belegten einmal mehr die Warnungen der Ärztekammer: Es gibt zu wenig Ärztinnen und Ärzte in Österreich, sowohl im niedergelassenen Bereich als auch in den Krankenhäusern (Spitälern). Wie in der Bundesrepublik Deutschland wird dies in Österreich in den kommenden Jahren durch die massive Pensionierungswelle noch weiter verschärft. 

Gerade in der Diskussion über den Ärztemangel wurde über viele Jahre für Österreich in den OECD-Statistiken mit Zahlen operiert, die keinen tragfähigen internationalen Vergleich ermöglichten. In den kommenden fünf Jahren werden mehr als ein Drittel aller Ärztinnen und Ärzte im pensionsfähigen Alter sein, bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sogar fast 50 Prozent. Ähnliche Entwicklungen haben wir für die Bundesrepublik Deutschland in unserem vergangenen Blog aufgezeigt. Somit gehen jedes Jahr Stellen verloren, die bei Weitem nicht mit jungen Medizinerinnen und Medizinern nachbesetzt werden können. Der mittelfristige jährliche Nachbesetzungsbedarf in Österreich liegt bei mindestens 1.450 Ärztinnen und Ärzten pro Jahr, um zumindest den Status quo zu erhalten. An den öffentlichen und privaten Universitäten gibt es zwar jährlich etwa 1.400 Medizinabsolventen, aber nur 60 Prozent davon nehmen eine ärztliche Tätigkeit in Österreich auf. Es gibt also ein reales Potenzial von nur 840 Absolventen pro Jahr. Um den tatsächlichen Bedarf zu decken, fehlen somit jährlich rund 610 ausgebildete Mediziner. Tatsächlich dürfte die jährliche Ausbildungslücke noch deutlich größer ausfallen. Angehende Medizinerinnen und Mediziner bevorzugen auch in unserem Nachbarland immer häufiger Teilzeitmodelle. Eine Umrechnung der jährlich effektiv zur Verfügung stehenden 840 Absolventen für Nachbesetzungen frei gewordener Arztsitze in Vollzeitäquivalente würde deren Zahl nochmals auf schätzungsweise rd. 640 (!) verringern.

Weitere Verschärfung durch Pensionierungswelle 

Die österreichische Politik ging aufgrund der OECD-Zahlen jahrelang von einer besonders hohen österreichischen Ärztedichte im europäischen Vergleich und von einer Überversorgung aus, von der jedoch in der Realität nicht die Rede sein konnte. Die Grundlagen der OECD-Berechnungen sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Österreich wurden in der Vergangenheit Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung stets als gleichwertig mitgezählt, obwohl sie noch nicht voll versorgungswirksam sind, bei der Berechnung der Ärztedichte anderer Länder werden Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung aber nicht mitgezählt. Daraus resultierte die Behauptung, dass Österreich in Europa die zweithöchste Ärztedichte habe. 

Ebenso wie hierzulande ist die „Spitze des Eisberges“ in Bezug auf den Ärztemangel noch lange nicht erreicht. Betrachtet man die beiden Abbildungen wird deutlich, dass der Anteil der Ärztinnen und Ärzte über 60 Jahre im Betrachtungszeitraum auf nunmehr ein Drittel gestiegen ist. 15 Prozent betreiben gar über das 65. Lebensjahr hinaus ihre eigene Praxis, 6 Prozent tun dies tatsächlich noch jenseits der 70. Häufig handelt es sich dabei um die letzte verbliebene Hausarztpraxis am Ort, sodass der Inhaber oder Inhaberin aus Verantwortungsgefühl den Patienten gegenüber von einer Schließung absieht. Der Ärztemangel wird also vielerorts durch ein zusätzliches und verlängertes Arbeitspensum seitens der älteren Ärzteschaft abgeschwächt. 

In Deutschland waren zum Vergleich Ende 2022 36,6% aller Hausärzte 60 Jahre oder älter und 15,7% über 65 Jahre. Leider existiert – anders als in Österreich – keine weitere Altersgruppenunterteilung. Ähnliche Zahlen sind jedoch anzunehmen, da die Altersstruktur ansonsten parallel verläuft.

Darüber hinaus kann zwar ein minimaler Anstieg der Zahlen der Mediziner bis 40 Jahre festgestellt werden, doch streben angehende Mediziner in Österreich ebenso in Angestelltentätigkeiten – zunehmend auch in Teilzeit – wie in Deutschland. Es steigen also nur die „Köpfe“, jedoch die ärztliche Arbeitszeit insgesamt und damit die Behandlungskapazität. (Lesen Sie auch: Hausärztemangel in Deutschland – Ein Blick in die Glaskugel)

Wie reagiert Österreich auf den Ärztemangel

Ein Großteil der in den vergangenen drei Jahren gemachten Vorschläge und geführten Diskussionen erinnern an die Debatte in Deutschland vor rund 20 Jahren bis heute. Wird jedoch aufgrund der Zeitverzögerung durch die inkorrekten OECD-Zahlen beschleunigt geführt. Die Bandbreite reicht dabei von der Einführung ärztlicher Teilzeitmodelle über die Gründung größerer Praxiseinheiten bis hin zur Aufwertung des Berufs des Hausarztes durch die Einführung des „Facharztes für Allgemeinmedizin“ – in Deutschland existiert die Facharztausbildung seit 1972.  Österreichweit gibt inzwischen bereits mehr als 500 Ausbildungsplätze für Jungmediziner in der Ausbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin.

Die Lücke von aktuell rd. 300 unbesetzten Hausarztsitzen – in Deutschland sind es aktuell knapp 6.000 nicht nachbesetzbare Hausarztsitze (erwartet werden bis 2030 etwa 12.000) – zwingt dabei auch Österreich zum Handeln. Mit der Neuerung sollen Versorgungsengpässe behoben werden. Die Öffnungszeiten in den Praxen werden zum Teil verlängert. Erst seit Oktober 2019 dürfen österreichische Ärzte andere Mediziner bei sich in der Praxis anstellen. In Deutschland ist dies seit über 20 Jahren möglich. Der Trend hin zur Anstellung sollte sich demnach spürbar fortsetzen.

Anforderungen von Nachwuchsmedizinern werden stärker berücksichtigt

Ein Arzt darf demnach maximal einen anderen (im Vollzeitäquivalent von 40 Stunden pro Woche) anstellen, Gruppenpraxen (vergleichbar mit deutschen Gemeinschaftspraxen) und Primärversorgungseinheiten (vergleichbar mit hausärztlichen Medizinischen Versorgungszentren) immerhin zwei. In Deutschland darf ein niedergelassener Arzt bis zu drei weitere Ärzte in Vollzeit beschäftigen, mit Ausnahmen sogar vier.

Als angestellter Arzt wird es auch möglich sein, in einem Teilzeit-Verhältnis zu arbeiten. Die Vereinbarung bilde die Wirklichkeit des Arbeitsalltags besser ab, da Teilzeitverhältnisse ermöglicht würden. „Wir wissen, dass vor allem junge Kolleginnen und Kollegen dem System oft verloren gehen, weil sie zu wenig attraktive Teilzeitarbeitsmodelle vorfinden“, sagt Dr. Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer. Zumindest im niedergelassenen Bereich stünde nun eine „attraktive Alternative“ zur Verfügung. „Zum Beispiel im Falle eines Wiedereinstiegs nach einer Karenz“, sagt Steinhart. Ältere Ärzte hätten zudem die Möglichkeit einer deutlichen Arbeitserleichterung vor ihrem Pensionsantritt.

Auch österreichische Experten begrüßen die Maßnahme: „Gruppenpraxen können damit ohne größeren Aufwand ihre Kapazitäten ausweiten“ und: „Die Anstellung kann für sie ein Karriere-Zwischenschritt sein, mit dem sie ohne wirtschaftliches Risiko Erfahrung in der Arbeit als niedergelassener Arzt sammeln können, ehe sie sich mit einer eigenen Praxis selbstständig machen.“ – Fazit: Kommt einem alles irgendwie bekannt vor. 

Berufspflicht-Vorschlag 

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) stößt derzeit mit seinem Vorschlag, angesichts des Ärztemangels eine Berufspflicht für Absolventen des Medizinstudiums in Österreich einzuführen auf starke Kritik. Der Koalitionspartner (Grüne) plädiert stattdessen dafür, den Beruf des Arztes für nachrückende Mediziner attraktiver zu gestalten, etwa durch den geplanten Ausbau der Primärversorgungszentren (PVZ). Nehammer hatte in seiner Rede „zur Zukunft der Nation“ Anfang März 2023 davon gesprochen, dass man 800 zusätzliche hausärztliche Kassenärzte bis 2030 brauchen werde, um die Versorgung in Stadt und Land tatsächlich sicherstellen zu können. Er sprach sich daher für mehr Studienplätze, aber eben auch für die Berufspflicht aus. Jene, die das Medizinstudium in Österreich abschließen, sollten „dann eben auch der Gesellschaft ein Stück weit etwas von dem zurückzugeben, was sie kostenlos in Anspruch genommen haben“. (Lesen Sie auch: Landarztquote – Ein Lösungsbeitrag für die Zeit nach 2030)

Verpflichtung für Medizinstudierende

Für wie lange diese Pflicht gelten soll, ging aus Nehammers Rede nicht hervor. Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) sprach in einem Interview von einem Zeitraum von fünf Jahren. „Wir investieren in jeden Medizinstudenten 360.000 Euro. Deshalb halte ich die vorgeschlagene Verpflichtung von Medizinstudenten, fünf Jahre in Österreich praktizieren zu müssen, für einen wichtigen Vorschlag“, erklärte sie.

Primärversorgungseinrichtungen

Die am 28. Juni 2017 vom österreichischen Parlament beschlossene Festlegung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für Primärversorgungseinrichtungen (Primärversorgungszentren bzw. -netzwerke) bildete den Grundstein für Errichtung von lokalen Versorgungszentren. Einerseits soll damit die wohnortnahe medizinische Versorgung im niedergelassenen Bereich verbessert und sichergestellt werden sowie andererseits damit einhergehend die Anzahl stationärer Aufenthalte in Krankenhäusern reduziert werden. 

Die Versorgungswirklichkeit zeigt auch in Österreich, dass die hausärztliche Versorgung in einzelnen und vor allem ländlichen Regionen nicht mehr flächendeckend sichergestellt werden kann. Die Primärversorgung der Zukunft orientiert sich an der Leitidee, in Zentren beziehungsweise Netzwerken mit multiprofessionellen Teams gemeinsam Patienten zu behandeln. Sie orientieren sich am spezifischen Bedarf der Menschen vor Ort und integrieren verschiedene Dienste der Gesundheits- und Sozialversorgung. Das Behandlungsspektrum reicht somit von Gesundheitsvorsorge über Akutversorgung bis hin zur Rehabilitation und Pflege. Die „Neue Primärversorgung“ soll damit zum Schlüssel zu einer echten Verbesserung der Gesundheitsversorgung werden. (Lesen Sie auch: Regionales Versorgungszentrum und kommunales MVZ in Baddeckenstedt eröffnet)

Derzeit gibt es in Österreich 39 Primärversorgungszentren in sieben Bundesländern. Das ursprüngliche Ziel, 75 Primärversorgungseinrichtungen (PVE) bis 2021 zu errichten, wurde zwar verfehlt, nun setzt man sich aber ein neues Ziel: Bis 2025 soll das Angebot auf 121 Zentren verdreifacht werden. Der Politik geht es aber auch um eine Entlastung des ambulanten Bereichs und zeitgemäße Arbeitsbedingungen für Ärztinnen und Ärzte.

Fazit

Der Aufbau von Primärversorgungszentren bzw. -netzen erinnert stark an die derzeitige Entwicklung in Deutschland. So fördert das Land Niedersachsen seit einigen Jahren den Aufbau von Regionalen Versorgungszentren (RVZ). Baden-Württemberg rollte vergangenes Jahr ein mehrjähriges Förderprojekt aus, um den Aufbau von Primärversorgungszentren und -netzwerken in einigen Kreisen bzw. Kreisstädten zu prüfen. Der hessische Landkreis Darmstadt-Dieburg nimmt hier seit Jahren ebenfalls eine Spitzenreiterposition ein. (Lesen Sie auch: Der Landrat von Darmstadt-Dieburg über die Gründung kommunaler MVZ – Interview) Gefördert und begleitet durch die Robert-Bosch-Stiftung entstand hier eines der ersten PORT-Zentren (Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung). Und es könnten noch weitere dergleichen Beispiele aufgezählt werden. Die Politik hat im Großen und Ganzen erkannt, dass es ein „weiter so“ in der ambulanten und stationären Versorgung nicht geben kann. Dies gilt für unser Nachbarland Österreich ebenso wie für Deutschland. Doch es braucht kommunale Akteure vor Ort die dies umsetzen. (Lesen Sie auch: Die ambulante medizinische Versorgung im Umbruch)