Ärztemangel
Hausärztemangel – Prognose bis 2035
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Hausärztemangel – Lösungen der Politik bringen nur geringe Entlastung

Ärztemangel Lösungen Politik

Bei auftretenden Problemen mit der ärztlichen Versorgung wendet sich der Blick der meisten Akteure als erstes hin zu den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Wie die Robert Bosch Stiftung in ihrer aktuellen Studie „Gesundheitszentren für Deutschland, Hausärztliche Versorgung – Status quo und Prognose der Entwicklung bis 2035“ darstellt, haben Politik und Selbstverwaltung in den letzten fast zwei Jahrzehnten versucht, durch verschiedene Förderungen und Maßnahmen gegenzusteuern. Grundlage der meisten KV-Förderungen ist die Feststellung der Unterversorgung des Gebiets, in das die Förderung fließt. Andere Maßnahmen zielen auf die Entwicklung und Förderung der Aus- und Weiterbildung in der Allgemeinmedizin ab, die ihre Wirkung erst mittel- bis langfristig entfalten können. Auf die wichtigsten Aktivitäten wird nachfolgend – basierend auf der oben bereits genannten Robert Bosch Studie – nach Handlungsfeldern untergliedert kurz eingegangen. Eines sei vorweg jedoch gesagt, der vorhandene Maßnahmenkatalog wird nicht ausreichen, um die Erosion der hausärztlichen Versorgung zu stoppen. Ohne eine tiefgreifende Transformation in der hausärztlichen Primärversorgung werden bis 2035 40% aller deutschen Landkreise von Unterversorgung (<75%) betroffen sein oder sich nahe der Unterversorgung befinden.

Handlungsebene: finanzielle Anreize

„Ein großer Teil der Maßnahmen zielt darauf ab, vorrangig den Kassenärztlichen Vereinigungen ein Arsenal an Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, einer eingetretenen oder drohenden Unterversorgung (im ländlichen Raum) durch finanzielle Anreize zu begegnen. Dazu zählen u.a.:

• finanzielle Unterstützung einer Tätigkeit und Niederlassung in unterversorgten Planungsregionen (Sicherstellungszuschläge für bestimmte dort tätige vertragsärztliche Leistungserbringer – § 105 Abs. 4 SGB V).

• Maßnahmen, für die Mittel aus den Strukturfonds der KVen zur Finanzierung von Fördermaßnahmen zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung eingesetzt werden können (§ 105 Abs. 1a SGB V). Diese Maßnahmen reichen von Zuschüssen zu den Investitionskosten bei der Neuniederlassung, bei Praxisübernahmen oder bei der Gründung von Zweigpraxen über die Förderung von Eigeneinrichtungen nach § 105 Abs. 1c SGB V und von lokalen Gesundheitszentren für die medizinische Grundversorgung bis hin zu Zuschlägen zur Vergütung sowie zur Ausbildung und zur Vergabe von Stipendien.

• Entfall der Maßnahmen zur Fallzahlbegrenzung oder -minderung (§ 87b Abs. 3 SGB V). Die finanziellen Anreize unterscheiden sich nach Art und Höhe teilweise erheblich zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen.“

Anzufügen ist, dass sich auch die parallel angebotenen KV-unabhängigen Förderungen von Bundesländern, Landkreisen oder kommunalen Zusammenschlüssen an den KV-Bedingungen für die Gewährung von Förderungen orientieren. Dabei handelt es sich hauptsächlich um finanzielle Förderungen, die ebenfalls den Ärzten zugute Kommen.

Handlungsebene: Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse

„Andere Maßnahmen zielen auf eine Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse ab. So wurden bereits mit dem 2007 in Kraft getretenen Vertragsarztrechtsänderungsgesetz (VÄndG) sowie den vorangehenden Änderungen des Berufsrechts die Möglichkeiten für ambulant tätige Ärzte zur Berufsausübung an mehreren Standorten und als Angestellte deutlich erweitert. Je nach KV-Region wird die Beschäftigung eines angestellten Arztes oder Psychotherapeuten in Regionen mit (drohender) Unterversorgung direkt bezuschusst und/oder per Investitionskostenzuschuss angereizt. Zuschüsse können auch für die Errichtung von Zweigpraxen vorgesehen sein. Wie in unserem letzten Blog-Beitrag ausgeführt, sind sowohl der Anteil der Hausärzte in einem Angestelltenverhältnis und in Medizinischen Versorgungszentren als auch der Anteil der Hausärzte in einer Teilzeitbeschäftigung sowie ohne Übernahme eines vollen Vertragsarztsitzes im letzten Jahrzehnt stark angestiegen. Die intensive Nutzung der erweiterten Optionen durch die (jungen) Hausärzte unterstreicht das ungebrochen starke Interesse der Nachwuchsmediziner daran, ihre Arbeit besser mit der Familie und ihren anderen Interessen in Übereinstimmung zu bringen und sich weniger durch medizinferne Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Führung eines Praxisbetriebes und den Risiken einer Selbständigkeit zu belasten.“

Handlungsebene: Stärkung des Fachgebiets Allgemeinmedizin in der Aus- und Weiterbildung und Erhöhung der Studierendenzahlen

„Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt der Aktivitäten bestand und besteht in Maßnahmen, die auf eine Stärkung des Fachgebiets Allgemeinmedizin in der Aus- und Weiterbildung und auf die Erhöhung der Studierendenzahlen abzielen. Diese Maßnahmen können erst mit geraumer zeitlicher Verzögerung zu einer steigenden Zahl von Ärzten führen, die in der hausärztlichen Versorgung tätig werden können. Mittlerweile gibt es an nahezu allen medizinischen Fakultäten in Deutschland vollständige Abteilungen oder Institute für Allgemeinmedizin (Beerheide und Richter-Kuhlmann 2020), von denen einige erst in den letzten Jahren etabliert worden sind. Zudem sind neue medizinische Fakultäten (bspw. Augsburg, Bielefeld, Bonn-Siegen oder Oldenburg) und private medizinische Hochschulen (Brandenburg) gegründet worden oder befinden sich im Aufbau. Noch im Beschlusstext des 122. Ärztetages 2019 heißt es: ‚Bund und Länder werden aufgefordert, unverzüglich darauf hinzuwirken, dass die Zahl der Medizinstudienplätze weiter und deutlich erhöht wird. Die Versorgung der immer älter und kränker werdenden Bevölkerung braucht dringend mehr Ärztinnen und Ärzte. Nur wenige ärztliche Aufgaben können delegiert werden.“ (BÄK 2019, S. 32)‘

In einzelnen Bundesländern sind zudem Erhöhungen der Zahl der Medizinstudienplätze erfolgt oder befinden sich in Planung (Beerheide und Richter-Kuhlmann 2020). Zum 1. Oktober 2025 soll eine neue Ärztliche Approbationsordnung in Kraft treten. (Richter-Kuhlmann 2020) Mit einem Teil der Änderungen wird das Ziel verfolgt, bei den Studierenden ein größeres Interesse am Fach Allgemeinmedizin zu wecken und mehr allgemeinmedizinischen Nachwuchs für die flächendeckende Versorgung zu gewinnen. Die Stärkung des Faches Allgemeinmedizin im Studium ist insbesondere ein Ergebnis des im Jahr 2017 beschlossenen ‚Masterplans Medizinstudium 2020‘, der zahlreiche Impulse zur inhaltlichen Neugestaltung von Studium und Weiterbildung gesetzt hat. 

Den Ländern wurde es ermöglicht, eine ‚Landarztquote‘ einzuführen, mit der Nachwuchs für eine ärztliche Versorgung in unterversorgten und von Unterversorgung bedrohten ländlichen Regionen oder Planungsbereichen gewonnen werden soll. Die Länder können in ihren Hochschulzulassungsverordnungen bzw. Studienplatzvergabeverordnungen festlegen, dass bis zu 10 % der bestehenden Medizinstudienplätze vorab an Bewerber vergeben werden können, die sich verpflichten, nach Abschluss des Studiums und der fachärztlichen Weiterbildung in der Allgemeinmedizin für bis zu zehn Jahre in der hausärztlichen Versorgung der o. g. Regionen des Studiumsbundeslandes tätig zu sein. (BMBF 2017) Bis Ende des Jahres 2020 hatten sieben Bundesländer die „Landarztquote“ umgesetzt, wobei der Anteil der reservierten Studienplätze i. d. R. unter den maximal möglichen 10 % liegt, und mehrere weitere Länder bereiten die Einführung vor. (LMS 2021) Wann und ob eine bundesweite Umsetzung der ‚Landarztquote‘ erfolgen wird, ist nicht absehbar. Insbesondere einzelne Landesärztekammern lehnen diese Maßnahme ab.“

Diese Ablehnung speist sich aus den Bedenken, ob junge Erwachsene im Alter von 18 – 20 Jahren die Auswirkungen einer Berufsfestlegung mit einer Regelstudienzeit von sechs Jahren, einer Facharztweiterbildung von fünf Jahren und einer Verpflichtungszeit als ‚Landarzt‘ von zehn Jahren (insgesamt also 21 Jahre) überhaupt überblicken können. Ein Blick auf die zunehmende Zahl an offenen Hausarztsitzen zeigt zudem, dass die Zahl der neu ausgewiesenen Studienplätze diese nicht „füllen“ kann, zumal die o.g. lange Ausbildungszeit erste Effekte frühestens nach 2030 erwarten lässt. Ein Hinwenden zu den Kompetenzprofilen anderer Gesundheitsfachberufe ist demzufolge richtig. (Lesen Sie auch: Die Landarztquote – Ein Lösungsbeitrag für die Zeit nach 2030)

Handlungsebene: Entwicklung und Nutzung der Kompetenzprofile anderer Gesundheitsfachberufe

„In den letzten Jahren wurden die Möglichkeiten behutsam erweitert, andere Gesundheitsfachberufe so zu qualifizieren und einsetzen zu dürfen, dass einzelne Leistungen, die bis dato ausschließlich dem ärztlichen Wirkungskreis zuzurechnen waren, auch von diesen Berufsgruppen erbracht werden können bzw. dürfen. Hervorzuheben sind hier die Weiterbildungen von Medizinischen Fachangestellten zu VERAHs (Versorgungsassistenten in der Hausarztpraxis) und NäPas (Nicht-ärztliche Praxisassistenten) bzw. EVAs (Entlastende Versorgungsassistenten). Die Kompetenzen und möglichen Aufgaben bspw. der VERAHs reichen von der Unterstützung der Ärzte beim Fallmanagement über die Erstellung von Versorgungsplänen (in Zusammenarbeit mit dem Patienten und dem Hausarzt) bis hin zur Durchführung delegierter Assessments sowie eigenständiger Haus- und Pflegeheimbesuche und zur Beurteilung und Dokumentation chronischer Wunden sowie zu einer selbständigen Behandlungsdurchführung in Abstimmung mit dem Arzt. 

Bereits 12.500 Medizinische Fachangestellte haben sich zu VERAHs weiterqualifiziert. Gleichzeitig wurden Vergütungen für Leistungen der höher qualifizierten MFA festgelegt, die es den Ärzten erlauben zu kalkulieren, ob eine Unterstützung der Weiterqualifizierung bereits beschäftigter MFA und/oder die Einstellung bereits speziell qualifizierter MFA für den (wirtschaftlichen) Praxisbetrieb lohnend sind. Berücksichtigen dürften die Ärzte auch, in welchem Maße hierdurch ihre eigene Arbeitsbelastung im Arbeitsalltag verringert und/oder ob eine bessere Versorgung und Koordination der Patienten erwartet werden können. Hingegen spielen Pflegefachpersonen in Deutschland bislang – im Gegensatz zu Ländern mit einer üblicherweise höheren Primärversorgungsorientierung – in der ambulanten medizinischen Versorgung sowie bei der Versorgungskoordination und Patientensteuerung etc. noch keine bedeutendere Rolle. ‚(…) der geringe Grad an akademischer Durchdringung verhindert, dass wir auch in Deutschland zu einer mit der internationalen Entwicklung kompatiblen Aufgabenneuverteilung kommen und diese ausreichend qualifikatorisch absichern können.‘ (Schaeffer 2017, S. 31) Die gesetzlich geschaffenen Möglichkeiten zur Erprobung neuer Modelle, die eine Übertragung von ärztlichen Tätigkeiten, bei denen es sich um selbständige Ausübung von Heilkunde handelt und für die die Angehörigen des im Pflegeberufegesetz geregelten Berufs auf Grundlage einer Ausbildung nach § 14 des Pflegeberufegesetzes qualifiziert sind, vorsehen (§ 63 Abs. 3c SGB V), wurden bislang kaum genutzt.

Mit der Übertragung von ärztlichen Leistungen verbinden die Hausärzte insbesondere die Erwartungen, ihre Arbeitszeit zu entlasten, wieder mehr Zeit für den einzelnen Patienten zu haben und insgesamt mehr Patienten versorgen zu können. So stellten Goetz et al. (2017) in einer Befragung von bereits länger praktizierenden Hausärzten in Deutschland fest, dass etwa die Hälfte der Hausärzte eine positive Einstellung zur Delegation von Leistungen an nichtärztliche Gesundheitsfachberufe hat. Über 90 % der Hausärzte erwarten oder stellen durch die Delegation von Leistungen Zeitersparnisse fest und/oder erwarten bzw. haben mehr

zeitlichen Spielraum, sich um einzelne Patienten mit hohem ärztlichen Versorgungsbedarf zu kümmern. 80 % der Hausärzte haben oder erwarten eine höhere Arbeitszufriedenheit. Etwa drei von vier Ärzten gehen davon aus, durch die Delegation von Leistungen eine größere Zahl von Patienten versorgen zu können. Etwa die Hälfte der Hausärzte hatten zum Befragungszeitpunkt bereits mindestens sieben unterschiedliche Tätigkeiten an ihre nichtärztlichen Teammitglieder delegiert, darunter nahezu durchweg Standardleistungen (EKG-Aufzeichnung, Blutzuckermessung o. Ä.). Nur von etwa einem Drittel dieser Hausärzte wurden auch Leistungen delegiert, die mehr Beratungsanteile beinhalten (bspw. Wundinspektionen). Bemerkenswert ist auch, dass nur jeder fünfte Arzt erwartet oder festgestellt hat, dass die Patienten die Leistungsdelegation nicht akzeptieren (würden). Lediglich 10 % der Hausärzte gaben an, über eine etwaige Substitution wichtiger Aspekte der bisher arztbasierten Gesundheitsversorgung besorgt zu sein.“

Der im obigen Absatz beschriebene Strukturwandel der Praxislandschaft führt – aktuell bereits erkennbar – zu einer Vergrößerung der Praxiseinheiten. Einzelpraxen und kleine 2er-Praxen sind im Schwinden begriffen. Größere Praxiseinheiten nehmen zu. Diese können sich nicht nur die o.g. „teureren“ Praxismitarbeiterinnen betriebswirtschaftlich „leisten“, sondern sind in den Augen der Nachfolgemediziner auch attraktive Arbeitgeber. So lehren Erfahrungen aus dem Markt, dass Praxen mit sechs bis sieben Ärzten, die altersmäßig gemischt sind, Initiativbewerbungen erhalten. (Lesen Sie auch: Rechtliche Hürden bei der Gründung kommunaler MVZ)

Prolongation der Tätigkeit als niedergelassener Arzt in höherem Alter

„Eine Maßnahme stellt auch die Bezuschussung der Praxisfortführung für Ärzte bei (drohender) Unterversorgung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen dar. So bezuschusst bspw. die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns die Praxisfortführung durch Ärzte ab dem 63. Lebensjahr für einen Zeitraum von maximal zwei Jahren mit bis zu 4.500 Euro je Quartal, sofern in dieser Zeit ein intensives Bemühen um die Sicherung der Praxisübernahme nachgewiesen wird. (KVB 2019)“

Verpflichtung zum Betrieb von Eigeneinrichtungen durch die KVen bei festgestellter Unterversorgung

„Mit dem im Jahr 2019 in Kraft getreten TSVG wurden die KVen verpflichtet, bei festgestellter Unterversorgung spätestens nach Ablauf von sechs Monaten – als Ultima Ratio – die Versorgung durch den Betrieb von Eigeneinrichtungen sicherzustellen. (§ 105 Absatz 1c SGB V) In diesen Fällen sind die Ärzte – zumindest in der Startphase – bei der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung angestellt und müssen weder hohe Anfangsinvestitionen noch das wirtschaftliche Risiko des Praxisbetriebes tragen. Diese Regelung dürfe das Interesse der Kassenärztlichen Vereinigungen weiter erhöhen, mit dem verfügbaren Instrumentenkasten (siehe vorn) Unterversorgung in einzelnen Planungsregionen zu verhindern.“

Die KV Thüringen formuliert dies unter dem Begriff Stiftungspraxis wie folgt: „Mit den Fördermöglichkeiten der Stiftungs-Praxis erwartet Sie ein Rundum-Sorglos-Paket zur Errichtung und Gestaltung einer eigenen Praxis: Ob Ausstattung, Anstellung oder Personalsuche, das Team begleitet, berät und unterstützt Sie finanziell bei sämtlichen Verwaltungsprozessen. (Quelle: https://www.kv-thueringen.de/nachwuchs/stiftungs-praxis)“. Aktuell hat die KV Thüringen bereits elf Stiftungspraxen eingerichtet.

Zusammenfassung

„Die gesundheitliche Primärversorgung wird in Deutschland weitgehend von den Hausärzten erbracht. Andere Gesundheitsfachberufe sind bislang gar nicht oder nur wenig involviert. Der auf eine Weiterentwicklung und Stärkung der Primärversorgungsebene auszurichtende Handlungsbedarf ist umso dringlicher, da – trotz der vielfältigen in den letzten zwei Jahrzehnten auf den unterschiedlichen Handlungsebenen ergriffenen Maßnahmen – mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass sich die Mangelsituation bei den Hausärzten in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird.“ Die Prognoserechnung der Robert-Bosch-Stiftung ergibt für das Jahr 2035 in etwa 11.000 unbesetzte Hausarztstellen. Rund 20 Prozent der Landkreise werden dann hausärztlich unterversorgt sein (Versorgungsgrad < 75 %). Ländliche Regionen werden vom Wegfall einer wohnortnahen hausärztlichen Grundversorgung am betroffen sein. 

Die oben dargestellten Maßnahmen zur Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung, so z.B. Erhöhungen der Zahl der Medizinstudienplätze, Gründung med. Fakultäten sowie die Einführung von Landarztquoten, werden innerhalb des Betrachtungszeitraums bis 2035 aufgrund der langen Ausbildungszeiten keine spürbare Entlastung bringen. Selbst nach 2035 ist nur mit einem geringen Entlastungsbeitrag zu rechnen, da die Erosion der hausärztlichen Versorgung durch die Zurruhesetzung von Ärzten aus den geburtenstarken Jahrgängen beschleunigt wird. Am Beispiel Niedersachsen stellte die Studie heraus, dass sich bei Fortbestehen der gegenwärtigen Zulassungsbedingungen auch in Arztgruppen der allgemeinen fachärztlichen Versorgung in vielen Planungsbezirken, die derzeit aufgrund von Überversorgung gesperrt sind, Niederlassungsmöglichkeiten ergeben werden. Dazu zählen bspw. Frauenärzte, HNO-Ärzte oder Nervenärzte. Diese neue Perspektive könnte die Entscheidung über die einzuschlagende Fachrichtung der Medizin-Studierenden mit entsprechenden negativen Konsequenzen für die in den letzten Jahren leicht angestiegene Allgemeinmedizinerquote beeinflussen. 

„Das Problem der Sicherstellung einer ausreichenden und weitgehend einheitlichen Primärversorgung in der Fläche wird sich durch die zunehmend stärker präferierte Form der Arbeit in Teilzeitmodellen und/oder in Anstellung weiter verstärken. Da zu erwarten ist, dass die Hausärzte in einem insgesamt deutlich geringeren verfügbaren Zeitvolumen mehr Patienten versorgen und managen müssen, die zudem komplexere Behandlungsbedarfe haben, wird zudem die Arbeitslast im hausärztlichen Bereich eher zu- als abnehmen. Auch eine Implementierung noch stärkerer finanzieller Anreize, die die Entscheidungen für die Aufnahme einer allgemeinmedizinischen Weiterbildung und/oder eine Arbeitsaufnahme in unterversorgten und von Unterversorgung bedrohten Regionen befördern sollen, werden das Sicherstellungsproblem nicht allein lösen können. 

Die Autoren der Studie der Robert-Bosch-Stiftung kommen zu dem Schluss, dass „zusätzliche versorgungsstrukturelle Entwicklungen intensiv(er) vorangetrieben oder überhaupt erst initiiert werden müssen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen substantiellen Beitrag zur Steigerung der Attraktivität des Hausarztberufes – auch in ländlichen Regionen – leisten können. Diese versorgungsstrukturellen Entwicklungen müssen gleichzeitig auch geeignet sein, die Produktivität der Primärversorgungseinrichtungen – im Sinne der pro Arbeitsstunde durch die gesamte Einrichtung und ihr Personal „bearbeiteten“ Versorgungsaufgaben – substantiell zu erhöhen. Diese erforderliche Produktivitätssteigerung wird sich nur bewerkstelligen lassen, wenn neue Primärversorgungsstrukturen entstehen, in denen die Arbeit in multiprofessionellen Teams auf Basis optimierter und technisch besser unterstützter Prozesse organisiert ist.“

„Mit dem Wandel weg von analogen Prozessen hin zu digitalen Lösungen sind nicht unerhebliche Hoffnungen auf eine Entlastung des Gesundheitspersonals verbunden. Auch in Deutschland besteht die Erwartung, „[…] dass eine gute IT-Infrastruktur sowie digitale Anwendungen zu einer effizienteren Gestaltung des klinischen Alltags und einer verbesserten Versorgungsqualität führen“ (BJÄ 2020, S. 265).“ Ein vermehrter Technikeinsatz setzt jedoch entsprechende Anforderungen an vorhandenes Betriebskapital, fachlich qualifizierte Mitarbeiter sowie einen koordinierten Austausch zwischen Versorgungseinrichtungen. Der Landkreis Darmstadt-Dieburg ist hierbei besonders als „Leuchtturm“ hervorzuheben. Das landkreiseigene kommunale hausärztlich-internistische MVZ wareines von acht bundesweiten PORT-Projekten der Robert-Bosch-Stiftung. Die im Mai 2021 veröffentlichte Studie „Gesundheitszentren für Deutschland – Wie ein Neustart in der Primärversorgung gelingen kann“ baut auf den Erkenntnissen aus diesem Förderprogramm auf. (Lesen Sie auch: Gründung kommunaler MVZ im Landkreis Darmstadt-Dieburg – Interview)

Quelle: „Studie: Gesundheitszentren für Deutschland“. Wie ein Neustart in der Primärversorgung gelingen kann. Hrsg. von der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2021

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